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Tänzerinnen der Tanzgruppen "Locomotiva do Frevo und Baque Forte Berlin"

© dpa

Karneval der Kulturen: Kostümfest im Märchenland

Laut, zauberhaft, bunt und immer auch eine Reise um die Welt, bei der die Berliner zu Touristen werden - das ist der Karneval der Kulturen. Unser Autor hat den Kurztrip mitgemacht.

Der Himmel hat sich an diesem Morgen ein denkbar unpassendes Kostüm ausgesucht. Wolken. Man könnte auch sagen, das Wetter sitzt in U-Haft. Die Stadt liegt noch grau und müde unter diesem Himmel, schüttelt gerade erst die Müdigkeit aus dem Asphalt, kämpft gegen den Kater der vergangenen Nacht. In zwei Stunden beginnt der Karneval der Kulturen, bunt und laut soll es werden, ein farbenfrohes Fest der Völker. Noch ist davon nur wenig zu spüren. Die U-Bahn in Richtung Hermannplatz ist ein Ort ohne Geräusche, mit Menschen, die, wenn überhaupt, leere Blicke als Kostüm tragen. Ganz so, als würden sie dem Himmel einen Partnerlook schulden. Ein junges Mädchen sitzt alleine in einer Viererbank. Ihre schmalen Lippen bewegen sich kaum, nachdem sie sich an ihren iPod angeschlossen hat, erstarrt sie. Ihre Augen suchen einen Punkt in der Ferne. Am Südstern steigt sie aus. Die U-Bahn ist jetzt leer. Karneval ist anders.

Auch am Hermannplatz, traditionell das Epizentrum der musikalischen Verkleidung, gibt es kaum Anhaltspunkte für die bunte Andersartigkeit dieses Tages. Neben den üblichen Buden mit Caipirinha (4 Euro) und Bratwurst (2 Euro) hat Ramazan seinen Stand aufgebaut. Er verkauft heute Hüte, Basecaps und Sonnenbrillen. Normalerweise steht er nicht weit entfernt auf dem Wochenmarkt und verkauft Hüte, Basecaps und Sonnenbrillen. Weil heute aber Karneval ist, hat Ramazan Hawaii-Ketten für einen Euro an seinen Stand gehängt, die in ihrer quietschpenetranten Farbgebung an Sangria-Abende im Club-Hotel auf Gran Canaria erinnern. Sangria gibt es nebenan. Der Karneval ist für Ramazan, den die Aura eines Reisegruppenleiters in Antalya umgibt, etwas Besonderes, nicht nur wegen des Umsatzes: "Es zeigt einfach, wie Berlin ist", sagt er und natürlich sagt er auch noch: Multi-Kulti. Weil das ja an so einem Kulturkarnevaltag auch immer dazu gehört. Zum Abschluss schickt er noch eine Hoffnung in den immer noch wolkig kostümierten Himmel. Er hoffe einfach, dass es später keinen Regen gibt. Denn Regen wäre eher schlecht. Für den Karneval. Und für die Sonnenbrillen.

Schräg gegenüber. Im "Brinks am Hermannplatz" sitzen Wolfgang und sein Kumpel heute in der ersten Reihe. Das zumindest verspricht, schwarz auf blau, ein Blatt Papier, das am Eingang klebt. Wolfgang, etwa 65, so genau kann man das nicht sagen, hält sich an seinem Bier fest. Das Brinks hat seit 8 Uhr auf, gut möglich, dass Wolfgang heute der erste Gast war. Er sitzt jedes Jahr zum Karneval hier. Also in der ersten Reihe. Und wartet auf die kubanischen Wagen. Wolfgang ist Kuba-Fan. Seine Vorfreude ist groß. Nur die Dixie-Klos gegenüber machen ihm Sorgen. "Nachher weht das wieder rüber und dann schmeckt das Bier nicht mehr", sagt er und wippt dann zur Musik, die hinter ihm aus den Boxen dringt. Udo Jürgens. Warten auf Kuba.

Der Soundtrack vor dem Brinks, die Musik vor der Musik, also Udo Jürgens, wird von Gerd ausgesucht. Der Altenpfleger aus Kreuzberg wohnt um die Ecke und ist jedes Jahr, oder zumindest so lange wie er sich erinnern kann, beim Karneval dabei. Immer hier vor der Kneipe, immer als DJ, mit Mischpult und zwei CD-Playern. Eine Sommermärchentrillerpfeife baumelt um seinen Hals, sein CD-Koffer ist schlagerlastig. Neben dem Andrea-Berg-Best-Of liegt aber auch "Karneval der Kulturen Volume I". Gerd ist vorbereitet. Und nicht nur das. Gleich wird er sich noch umziehen. Er zeigt ein Foto aus dem vergangenen Jahr. Da trägt Gerd einen Sonnenhut mit blonder Frauenperücke, dazu obenrum nichts als einen schmalen Bikini, ein Baströckchen und Strapse. Verschwörerisch zieht er ein Hosenbein etwas hoch. Die Strapse hat er schon an. Vorbereitet eben. Na dann, tschüss Gerd. Und Helau. Warten auf den Karneval.

Die Suche geht also weiter. Vor dem Haupteingang der klobigen Karstadtfiliale spricht ein groß gewachsener Jamaikaner mit seinen Dreadlocks, Flaschensammler sammeln Flaschen. Scheinbar ein ganz normaler Tag am Hermannplatz, an einem Ort, an dem ja irgendwie immer ein bisschen Karneval ist.

Der farbenprächtige Straßenumzug ist Höhepunkt des alljährlichen Spektakels.
Der farbenprächtige Straßenumzug ist Höhepunkt des alljährlichen Spektakels.

© David von Becker

Doch schon um die Ecke in der Urbanstraße explodiert, endlich, das Panorama. Als wäre man über eine unsichtbare Grenze in ein Märchenland eingedrungen. Ein Kaleidoskop der Kostüme füllt die Straße mit Farben, unterlegt mit elekronischen Beats, die in den Bäumen hängen wie künstliches Vogelgezwitscher. Mittendrin wird der Berliner zum Touristen in einer Fabelwelt, die einem Mashup der Gedankenwelten von Terry Pratchett und C.S. Lewis gleicht. Drei Meter große Zwitterwesen, kriegsbemalt und blutgetränkt, Halbmenschen mit Ziegenköpfen, gleichzeitig Jäger und Gejagte, wanken über den Gehsteig und teilen das staunende Menschenmeer. Androgyne Kunstturner, nur in Windeln und Tusche gehüllt, krümmen sich in durchsichtigen Seifenblasen aus Plastik. Dahinter übt eine Flamencogruppe ihren Eröffnungstanz vor einem Wagen, der so surreal blüht, als wäre er von einem einohrigen Holländer dekoriert worden. Leuchtende Blumen. Sommer eingebettet in in Sommern eingebetteten Sommern. Das Auge kommt hier nicht zur Ruhe. Peruanische Indianer huschen vorbei, menschliche Schellenkränze. Ihre folkloristischen Trachten, die sie aussehen lassen wie kaiserliche Toreros, sind aus mit goldenem Schmuck verzierten Samt. Zehn Minuten bevor sich der Zug in Bewegung setzt, beginnen sie unaufhörlich zu klingen. Ein wahnsinniges Glockenspiel.

An der Spitze dieses globalen Spielmannzugs binden sich die Trommler von Afoxé Loni ihre weißen Kopftücher, präparieren ihre Trommeln. Hermann, der wirklich so heißt, also hier am Hermannplatz ja quasi zuhause ist, wie er sagt, läuft im zweiten Jahr auf dem Karneval mit. Sonst ist er freiberuflicher Schauspieler, heute ist die Straße seine Bühne, weil er die Energie des Karnevals liebt, diese Kraft der Musik, die sich im Idealfall positiv auf die Leute übertragen soll. Gute Laune, würde Sven Väth jetzt sagen. Gute Laune, sagt auch Hermann und muss dann aber auch schon wieder weg, um noch ein bisschen zu üben. Es geht schließlich gleich los. Und ein bisschen aufgeregt sind sie ja trotzdem alle, egal wie oft sie die hier schon mitgelaufen sind.

Vor dem Brinks sitzen Wolfang und seine Kumpel jetzt nicht mehr wirklich in der ersten Reihe, aber immerhin wurden die Dixieklos noch weggeräumt. Das Bier schmeckt also. Gerd ist nicht mehr da, wahrscheinlich zieht er sich gerade um.

Vor Wolfangs Outdoor-Barhocker hat sich die Straße wie erwartet gefüllt. Es herrscht eine Stimmung fiebriger Erwartung. Das Publikum trägt bunte Sonnenbrillen, Kameras in der einen, Wurst oder Bier in der anderen. Es ist so heterogen durchmischt wie die Stadt. "Das ist ja das Schöne am Karneval. Dieses Miteinander. Hier kommen alle Menschen zusammen. Hautfarbe, Alter, Konfession - das ist alles egal", sagt einer in der ersten Reihe und noch während er spricht, erhebt sich ein entfernter Trommelwirbel. Es ist halb eins. Der Karneval hat begonnen. Der Schall windet sich als Vorhut um die Ecke, dann erreichen Afoxé Loni, Hermann und die Trommeln den Hermannplatz, sie leuchten sonnengelb und ihre Musik, die so klingt wie man sich die Copacabana vorstellt, wird von den Häuserwänden reflektiert, umhüllt die Menschenmasse in Dolby Surround. "Hallo, Berlin!", schallt es von ihrem Wagen. "Geht es euch gut?" Die Samba-Königin, die über den Tänzern thront, erntet ein tausendfaches Nicken. Die Straße lächelt. Und antwortet dem Gesang als mehrstimmiges Echo. Körper beginnen sich langsam dem Takt der Musik anzupassen. Die Straße tanzt. Ganz so als wären die Menschen, deren Gesichter zwei Stunden zuvor noch graue Müdigkeit spiegelten jetzt mit einer feinen Konfettischicht überzogen. Gute Laune. So ansteckend wie sonst nur das Gähnen eines Fremden in der U-Bahn.

Wenig später biegt der Flamenco-Zug um die Ecke, die Frauen tanzen, der Sommer blüht. Und mitten unter ihnen dreht sich, jung und blond, in einem wallenden Faltenrock auf hohen Absätzen, mit einem Fächer in der Hand und einem Lächeln auf den schmalen Lippen, das Mädchen aus der U-Bahn. Sie hat sich verwandelt. Oder einfach nur chamäleonartig der Stadt angepasst. Es ist Karneval in Berlin.

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