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Friedrichshains Broadway: Die Boxhagener Straße. Die „Theaterkapelle“, ein neoromanisches Friedhofsgebäude, wurde 1879 erbaut.

© Doris Spiekermann-Klaas

Lebensadern (14): Die Boxhagener Straße: Das jüngste Gesicht

Straßen erzählen Geschichten. Stadtgeschichten, Kiezgeschichten, Lebensgeschichten. In unserer Serie folgen wir Berliner Lebensadern. Die Boxhagener Straße steht für den Wandel Friedrichshains zum Ausgehbezirk.

Anfangs fällt sie kaum auf. Unscheinbar und etwas verschämt zweigt die Boxhagener Straße, gleich nach dem Frankfurter Tor, von der Magistrale, der Warschauer Straße ab. Niemand würde vermuten, hier den Broadway von Friedrichshain vor sich zu haben. Und doch ist der Vergleich nicht abwegig. Denn wie ein uralter Trampelpfad der Indianer auf der Insel Manhattan sich bis heute durchs New Yorker Straßenraster schlängelt, so geht auch die Boxhagener Straße auf einen älteren Landweg zurück, über den das 19. Jahrhundert ein gleichmäßiges, quadratisches Muster neuer Quartiere gelegt hat. Schräg durchschneidet sie das, was man hier den „Südkiez“ nennt, im Unterschied zum „Nordkiez“ auf der anderen Seite der Frankfurter Allee.

Der „Alter Cöpenicker Weg“, wie die Straße früher hieß, führte zum Vorwerk Boxhagen, einem Gutshof vor den Toren der Stadt, der etwa da lag, wo heute die Wühlischsstraße in die Boxhagener einmündet. Im 14. Jahrhundert – für Berliner Verhältnisse spektakulär früh – wurde er erstmals urkundlich erwähnt. Aus „Buchshagen“ oder „Bockshagen“ entstand viel später, 1889, die Gemeinde Boxhagen-Rummelsburg, die aber nur knapp zwanzig Jahre bestand. Dann wurde sie der Stadt Lichtenberg zugeschlagen, bevor das ganze Gebiet schließlich 1920 nach Berlin eingemeindet wurde. Heute gibt es kein Boxhagen mehr, es ist vollständig in der gründerzeitlichen Bebauung Friedrichshains aufgegangen. Dass es existierte, kann man nur noch daran ablesen, dass einige durchgehende Straßen an der früheren Gemeindegrenze ihren Namen ändern. Und daran, dass es eine Boxhagener Straße gibt, natürlich.

Niemand weiß genau, wann das Kino Intimes an der Ecke zur Niederbarnimstraße eröffnet wurde, aber es ist seit mindestens hundert Jahren ununterbrochen in Betrieb. Die Innenausstattung aus DDR-Zeiten lässt André Krischock, der das Kino seit 1994 betreibt, unverändert, nur das Siebziger-Jahre-Logo an der Hauswand hat mal einen frischen Anstrich bekommen. Draußen wurde alles anders. Die Arbeiter des Reichsbahn-Ausbesserungswerks und des Glühlampenherstellers Narva, die einst den Bezirk prägten, sind verschwunden, und auch die Hausbesetzer- und Studentengeneration, die ihnen folgte, hat schon wieder einer neuen, wohlhabenderen Bevölkerung Platz gemacht, die in der Kreativindustrie arbeitet und Kinder bekommt. Statistisch soll Friedrichshain-Kreuzberg der jüngste Bezirk in Deutschland sein, heißt es aus dem Rathaus.

Das hat seinen Preis. „Ich habe das Gefühl, dass sich die Leute in Wellen austauschen“, sagt Krischock, der selbst eine Hausbesetzervergangenheit hat. „Die Wohnungen werden teuer ausgebaut, es kommen immer mehr Gutsituierte, manche Läden wechseln ständig den Besitzer.“ Mit einigen Jahren Verspätung holt Friedrichshain nach, was der Prenzlauer Berg vormachte.

Das Epizentrum der Veränderung liegt dem Kino direkt gegenüber. In der Simon-Dach- Straße entstand nach der Wende eine Kneipenmeile, die in Berlin ihresgleichen sucht. An den Abenden und Wochenenden ist hier keiner über dreißig, viele Besucher sind Touristen, in England und Skandinavien werben Veranstalter inzwischen mit Sauftrips durchs Viertel.

Wer die Boxhagener Straße nur ein paar Meter weiter Richtung Osten geht, lässt allen Trubel hinter sich. Auf dem 1867 eröffneten Kirchhof der evangelischen Georgen-Parochialgemeinde öffnet sich ein Feld der Ruhe – und ein Fenster in die Vergangenheit. Die Grabsteine erzählen von früheren Bewohnern, von einer Zeit vor dem Fall der Mauer. Die kleine Kapelle des Friedhofs direkt an der Boxhagener Straße ist das älteste denkmalgeschützte Gebäude in Friedrichshain. Doch was heißt in Berlin schon alt? Die Kapelle entstand 1879 und kopiert romanische Formen, nichts an ihr ist im künstlerischen Sinne eigenständig. Wie oft im späten 19. Jahrhundert hat hier ein Baumeister, in diesem Fall hieß er Gustav Knoblauch, unbekümmert vorgefundene Stilformen aufgegriffen und daraus geschickt ein Gebäude von großer Schönheit geformt – mit einer Gelassenheit, die uns heute fehlt.

Seit einigen Jahren nutzt der Verein „Theaterkapelle e. V.“ das Haus für experimentelles Theater und Musik, den Spielplan dominieren Heiner Müller, Büchner und Jelinek. „Wir merken am Publikum, dass viele Franzosen, Italiener und Spanier nach Berlin ziehen, weil die Stadt nicht so fixiert ist auf Lifestyle und äußere Erscheinung“, sagt Ingolf Roth, der die Musikprogramme organisiert. Viel Avantgarde-Jazz, wenig Punk, weil der woanders immer noch besser gemacht wird, in der Supamolly in der Jessnerstraße, einer der letzten Institutionen aus der Hausbesetzerzeit.

Nach der großen Hausbesetzerschlacht vom November 1990 wurde die Mainzer Straße als eine der ersten in Friedrichshain in eine bürgerliche Wohnidylle umgewandelt. Sie markiert eine spürbare Grenze. Ab hier bis Ostkreuz durchquert die Boxhagener Straße den Teil des Bezirks, der nicht wirklich hip ist. Aber auch hier werden inzwischen Miet- in Eigentumswohnungen umgewandelt und Bewohner, die nach der Wende zugezogen sind und zwanzig Jahre hier lebten, zum Auszug gezwungen. Jens Hadel betreibt eine Fleischerei, die er von seinem Vater übernommen hat. Fleisch wurde in dem Haus in der Boxhagener Straße 42, in dem Hadel auch wohnt, schon zur Erbauungszeit um 1900 verkauft.

Kontinuitätsgeschichten, wie man sie in Wien erwarten würde, aber nicht in Berlin. „Früher liefen hier jeden Tag bis zu 8 000 Arbeiter zur S-Bahn“, erzählt Hadel. Eine Kaufkraft, die nach der Wende wegfiel, aber er hielt durch, und inzwischen sind die Kunden wieder da. Es sind andere, und er hat sich auf sie eingestellt. „Viele wollen“, sagt er, „nicht mehr schmoren und kochen, sondern nur noch braten.“ Das geht schneller.

Schnell ist ab hier die Boxhagener Straße zu Ende. Die zweistöckigen Häusern mit der Nummer 70–72 sind die einzigen, die noch einen Eindruck von der ländlichen Bebauung Boxhagens vermitteln. In der Neuen Bahnhofstraße sticht die von Alfred Grenander gestaltete monumentale Fassade des einstigen Stammsitzes der Knorr Bremse AG ins Auge. Heute unterhält die Firma hier nur noch ein Museum und einige Repräsentanzräume, der Hauptsitz wurde, wie bei vielen anderen Konzernen, nach München verlagert – jene Stadt, die von der Teilung Deutschlands profitiert hat wie keine zweite. Nach einigen Schritten unterquert die Boxhagener Straße die Ringbahn und verliert ihren Namen, ab jetzt heißt sie Marktstraße. Vielleicht wird sie bald zum Fluchtweg für all jene, die in der schönen neuen Welt von Friedrichshain keinen Platz mehr finden. Angeblich soll Lichtenberg gar nicht so schlimm sein.

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