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Neukölln

© Mike Wolff

Karl-Marx-Straße: So schmeckt die Großstadt

Studenten haben die Neuköllner Karl-Marx-Straße mit allen Sinnen erkundet. Ihre Eindrücke lassen sich nun in einer Ausstellung hören, fühlen und riechen.

Zuerst der Selbstversuch: In der Karl- Marx-Straße auf den Bürgersteig stellen, gleich am U-Bahnhof, wo viele Leute vorbeigehen. Augen zu, Nase und Ohren auf. Autos bremsen und fahren an, „Tack tack tack“ tönt die Fußgängerampel, Passanten sprechen miteinander, Einkaufstüten rascheln, aber zu schnuppern ist rein gar nichts und zu fühlen nur Dezemberkühle.

Die Sinne müsse man auch erst mal ein bisschen trainieren, tröstet Daniela Müller. Und im Winter klappe das mit der Geruchsdichte auch nicht so wie im Sommer, ergänzt Michelle Piccirillo. Die beiden Ethnologie-Studentinnen von der Humboldt-Uni waren gemeinsam mit ein paar anderen anderthalb Jahre in der Neuköllner Einkaufsstraße unterwegs und haben gefühlt, gerochen, gelauscht und geschaut, was das Zeug hält. „Sensing the Street. Die Karl-Marx-Straße in Berlin“ heißt das gemeinsam mit der Universität der Künste veranstaltete Studienprojekt.

Was bei der sinnlichen Straßenethnografie herausgekommen ist, ist jetzt in der Galerie des Saalbaus Neukölln, im Mitte-Museum und im Kreuzberg-Museum zu sehen. Außer der Karl-Marx- Straße wurden nämlich auch die sensorischen Sensationen in der Ackerstraße und der Adalbertstraße erforscht.

„Total hübsch“ und „sieht geil aus“ lauten die Kommentare der Ausstellungbesucher aus Mitte und Friedrichshain. Einige der Studis sind zur Eröffnung zum ersten Mal ins verrufene Neukölln gereist. Wie die Karl-Marx-Straße denn nun schmeckt? „Lecker“, findet Daniela Müller, 32, die seit kurzem um die Ecke in der Weserstraße wohnt. „Bunt“, sagt Michelle Piccirillo, 26. So wie die drei Ausstellungsräume, in der glitzernde Paillettengürtel aus Neuköllner Ramschläden als Vorhang dienen, ein Grabbelkasten zum Mitfühlen einlädt, Straßenklänge tönen und farbige Flakons schwere Billigdüfte verströmen. Im Ausschank ist auch ein Karl-Marx-Straßen-Cocktail aus Curaçao, Orangen- und Zitronensaft, Kardamom und Rum – so schrill und multikulti wie die Straße, meint der studentische Barkeeper Juan Pablo Díaz.

Die Idee, drei Straßen vor allem durch schmecken, riechen, hören neu zu erfinden, stammt von Rolf Lindner. Er ist Professor am Institut für Europäische Ethnographie der HU. Warum gerade diese Straßen? „Wir wollten keinen Repräsentationsboulevard“, sagt er, „sondern ganz normale Straßen, die trotzdem Berlin repräsentieren.“ Die Ackerstraße stehe für die ehemals geteilte Stadt, die Adalbertstraße für Migranten und Szenevolk und die Karl-Marx-Straße für prekäre ökonomische Verhältnisse und kulturelle Vielfalt.

Im Sommer, wenn die Leute mit offenen Fenstern Auto führen, sei die Magistrale aufregend anders und erfüllt von Hiphop und Hupkonzerten, meint Lindner. „Das ist Berlins Rapperstraße.“

Soundwalks mit Richtmikrofonen, Geruchssafaris, Fundstücke aufsammeln, Befragungen, Foto- und Videotouren – das waren die experimentellen Forschungsmethoden der Studenten. Das Ergebnis ist Begeisterung. An den vorgefertigten Negativbildern der Straße sei nichts dran, sagt Michelle Piccirillo. „Wir waren fasziniert von der Farbigkeit, dem Leben und dem Großstadtcharakter“, sagt die Friedrichshainerin. Überprüfen kann das in der Karl-Marx-Straße jeder selbst. In der Saalbau-Galerie gibt es eine Karte, die auf gute Schnupperecken oder Horchposten hinweist.

Und wie fühlt sich die Karl-Marx- Straße nun an? „Na, einfach mal reingreifen“, rät Daniela Müller und zeigt auf die glitzernde Grabbelkiste. Augen zu, Hand rein und los: kratzige Pailletten, was Plüschig-Zotteliges und – bäh, was ist das? – Gummiweintrauben. Nichts ist echt, aber alles witzig. Komisch, so glamourös wie in „Sensing the Street“ ist einem die Straße bisher nie erschienen. Genau das ist unsere Absicht, sagt Michelle Piccirillo: „Verdichtung und Verfremdung.“

„Sensing the Street. Die Karl-Marx- Straße“ läuft bis zum 2. Januar 2008 in der Galerie Saalbau Neukölln. „Die Adalbertstraße“ bis zum 6. Januar im Kreuzberg-Museum und „Die Ackerstraße“ bis zum 10. Februar im Mitte-Museum. Infos unter www.sensingthestreet.de

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