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Fahrgäste der Berliner S-Bahn.

© Fabrizio Bensch/Reuters

Studie zu Nahverkehr: Warum Berlin nur theoretisch Spitzenreiter ist

Die Hauptstadt schneidet in einer weltweiten Studie zum Nahverkehr am besten ab. Vielleicht hätten die Forscher lieber mal vorbeigeschaut. Eine Glosse.

Eine Glosse von Hannes Soltau

Wer am Mittwochmorgen wieder mal auf Bus oder Bahn wartete und die Zeit mit einem Blick auf das Smartphone überbrückte, dürfte sich leicht verwundert die Augen gerieben haben. „Berlin ist am schnellsten!“, frohlockte es da in den Schlagzeilen oder auch „Nahverkehr der Metropole rekordverdächtig“.

Forscher einer Studie an der Technischen Universität in Turin wollen herausgefunden haben, dass man in der Hauptstadt bis zu 20 Prozent schneller von A nach B komme als in 32 weiteren Metropolen Europas, Nordamerikas und Australiens. Ungläubig wandert der Blick vom Display auf die Anzeigetafel: „Aufgrund von Bauarbeiten kommt es derzeit zu Verzögerungen im Betriebsablauf.“ Alles gar nicht so schlimm?

Schön wär’s. Denn statt mit der Stoppuhr an der Haltestelle oder eingequetscht in übervollen Waggons im Feierabendverkehr, recherchierten die Wissenschaftler auf der Internetpräsenz der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG). Nicht die reale Reisedauer interessierte sie, sondern die Modelle auf Fahr- und Netzplänen.

Was nützen Fahrplänen, wenn Züge ausfallen?

Das klingt nicht sehr überzeugend. Trotzdem wird man sich nun in der Hauptstadt auf die Schulter klopfen. Schließlich war Berlin einst Zentrum des deutschen Idealismus. Die Vertreter des „preußischen Athens“ um Fichte, Hegel und Co. gingen davon aus, dass die Ideen die Fundamente der Wirklichkeit sind. Was zählt, ist nicht wie es ist, sondern wie es sein sollte.

Doch was nützen dicht getaktete Zeiten auf Fahrplänen, wenn Züge ausfallen? Und können Wissenschaftler jenseits der Alpen im Internet feststellen, ob die betreffenden Bahnen nun mit sechs oder acht Waggons fahren? Gar von einer Signal- oder Weichenstörung betroffen sind?

Berlin hat ein breit aufgestelltes Infrastrukturnetz

Fahrpläne berichten nicht von der Uralt-Technik der Berliner Infrastruktur, die teilweise aus den 1920er Jahren stammt. Oder von zu wenigen einsatzfähigen Triebfahrzeugführern. Schon gar nicht von der Summe der ausgefallenen Kilometer bei der Straßenbahn, die sich im vergangenen Jahr auf mehr als 52.000 im Monatsdurchschnitt beliefen – was gegenüber 2017 eine Verdreifachung bedeutet.

Das sind die sehr realen Auswüchse eines fehlenden verkehrspolitischen Willens und falscher Prioritätensetzung. Wer trotzdem dabei stehenbleibt, das zu feiern, was laut Plan sein soll und nicht das, was uns im Alltag begegnet, ist schlicht verblendet.

Eine sinnvolle Erkenntnis der italienischen Studie aber bleibt: Berlin hat ein breit aufgestelltes Infrastrukturnetz. Dieses gilt es zu erhalten und auszubauen, wenn die Politik in der Stadt es mit der Verkehrswende ernst meint. Sonst können die Berliner bald wirklich Hegel nacheifern und mit der Pferdekutsche zur Arbeit fahren.

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