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Emilia Estradas Mutter floh aus der DDR nach Ungarn. Der Mauerfall hat sie überrascht.

© Thilo Rückeis

Tagesspiegel-Serie "20 Wende-Geschichten": „Ich habe alles zurückgelassen“

Im Herbst 1989, kurz vor dem Mauerfall, flieht Ulrike Estrada Betancourt über Ungarn in die Bundesrepublik. In der Nacht der Maueröffnung überquert sie die Grenze erneut – um ihre Freunde in Ost-Berlin zu überraschen.

„Ich war glücklich, überrascht und sprachlos, als ich erfahren habe, dass die Mauer gefallen ist, denn ich hatte vorher gedacht, dass ich meine Familie nie wieder sehe.“

Aus dem Aufsatz von Emilia Estrada.

Als die ungarische Regierung in der Nacht zum 11. September 1989 die Grenze zu Österreich für DDR-Bürger öffnet, hat Ulrike Estrada Betancourt ihre Hoffnung fast verloren. Allein in der Nacht fliehen 6000 Menschen über die Grenze nach Österreich. Die damals 22-Jährige ist sich sicher: Das von ihr beantragte Reisevisum für Ungarn bekommt sie bestimmt nicht mehr. Damit wäre auch ihre längst geplante Flucht gescheitert. Den Termin für die Ausgabe des Visums in Ost-Berlin hatte sie am 12. September. „Eine Arbeitskollegin hat mich zur Polizeistelle begleitet. Ich weiß noch, es war ein Dienstag“, erinnert sich Estrada Betancourt heute. „Und ich bekam tatsächlich das Visum.“

Danach ging alles ganz schnell, erzählt Estrada Betancourt ihrer zehnjährigen Tochter Emilia, die für den Aufsatz-Wettbewerb des Tagesspiegels alles über die Flucht ihrer Mutter erfahren möchte. „Am 13. September bin ich mit zitternden Knien ins Flugzeug nach Budapest gestiegen.“ Emilia hört dem Abenteuer ihrer Mutter gebannt zu; dass damals Menschen geflohen sind und ihre Familie zurückließen, ist für sie unvorstellbar.

Nur eine kleine Tasche hatte die Mutter dabei, ließ alles andere in ihrer Wohnung in der Marienburger Straße in Prenzlauer Berg zurück. „Noch heute wundere ich mich, dass die Behörden mir das Visum gegeben haben“, sagt die 47-Jährige. Am Flughafen stieg sie in ein Taxi: „Ich musste dem Fahrer gar nichts sagen, der wusste schon, wo ich hinwollte.“ Ein Bus brachte sie nach wenigen Stunden Aufenthalt in Budapest gemeinsam mit anderen Flüchtlingen in das Auffanglager Deggendorf in Bayern. „Oma und Opa wussten nichts von meiner Flucht. Erst dann habe ich ein Telegramm geschickt“, erzählt sie ihrer Tochter. „Da stand nur drin: Bin gut angekommen.“

Ihren Eltern gegenüber war sie vorsichtig, ihr Vater war in der Staatspartei SED. „Er ist im heutigen Polen geboren und wurde zu Kriegszeiten vertrieben. Die DDR war seine neue Heimat, er hat sich da geborgen gefühlt.“ Deswegen habe er auf den Staat auch 1989 nichts kommen lassen. „Er war überzeugt von diesem System. Er hat dafür gelebt und gearbeitet und konnte nicht verstehen, dass wir da Ungerechtigkeiten sahen.“ Ihre Mutter war kein SED-Mitglied und erlebte selbst Repressalien. Lange Zeit war sie Leiterin einer Kinderkrippe, bis sie in den 80er Jahren versetzt wurde. Sie habe sich schon früh an den DDR-Verhältnissen gerieben, sagt Emilias Mutter.

Schon nach dem Abitur, während ihrer Berufsausbildung zur Gärtnerin, fasste sie den Entschluss, die DDR zu verlassen. „Warum?“, fragt die Tochter. Die Mutter sagt: „Was ich in der DDR gesehen hatte, erschien mir ungerecht.“ Die Mutter erklärt ihrer Tochter die DDR-Verhältnisse so: Leute, die nicht in der Schule glänzten, aber in der Partei waren, hätten Studienplätze bekommen. Deshalb habe sie den Entschluss gefasst nicht zu studieren, sondern mit 19 nach Ost-Berlin zu ziehen. „Einige Zeit habe ich am Deutschen Theater gearbeitet und Karten abgerissen.“ Anfangs ist sie bei Bekannten untergekommen, bis sie eine Wohnung in der Wörther Straße in Prenzlauer Berg besetzte.

Nach ihrer Flucht über Ungarn besorgte ihr ein Freund eine Wohnung am Nauener Platz im Wedding. „Als die Mauer fiel, habe ich am Kurfürstendamm im Club ,Inside’ gekellnert“, erinnert sich die zweifache Mutter. „Am 9. November wollte ich gerade ins Bett gehen, als ein Freund mich anrief und sagte, die Mauer sei gefallen.“ Sie trafen sich an der Invalidenstraße und überquerten den Grenzübergang. „Da war mir etwas mulmig, weil ich nicht wusste, ob die Mauer offen bleibt oder ob wir rübergehen und nicht zurückkommen.“ Schließlich war sie ein Republikflüchtling. In Prenzlauer Berg besuchten sie Freunde, die noch nichts von der Wende mitbekommen hatten. „Das war eine Überraschung. Wir sind dann nach West-Berlin und dort in eine Kneipe. Die ganze Nacht haben wir gefeiert.“ An den Tagen danach musste Estrada Betancourt arbeiten und bekam vom Trubel nicht viel mit. „Für mich war das ein Mix der Gefühle. Ich habe mich natürlich gefreut, aber da war später auch eine große Enttäuschung“, erinnert sie sich. „Ich habe so viele Anstrengungen unternommen, ich habe alles zurückgelassen. Ich fing wieder bei null an. Und andere, die ein Parteibuch hatten, denen ging es vorher gut und nach dem Mauerfall auch.“ Selbst ihre Wohnung hat sie nicht zurückbekommen; verschwunden blieben Möbel, Erinnerungsstücke, Fotos.

Nach der Wiedervereinigung ist Estrada Betancourt viel gereist, nach Asien und Lateinamerika. Jede Gelegenheit habe sie dafür genutzt. „In der DDR fühlte ich mich eingesperrt. Als junger Mensch wollte ich rumreisen und mich frei bewegen, machen was ich will.“

1989 hat sie ihre Freiheit gefunden.

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