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Teilung: Stasi strickte Legenden über die Maueropfer

Experten stellen Forschungsprojekt über die Menschen vor, die an der Grenze getötet wurden.

Von Matthias Schlegel

„Am 1.1.63 feierte er mit Freundin bei Zenner, Nähe Oberbaumbrücke, und kam nie zurück.“ Das ist die Erinnerung, die die Mutter von Hans Räwel an ihren damals 21-jährigen Sohn und dieses tragischste Datum in ihrem Leben hat. Erst nach Tagen quälender Ungewissheit hatte sie vom Tod ihres Sohnes erfahren: Er sei an der Staatsgrenze aufgefunden worden, ertrunken, teilten ihr die DDR-Behörden mit. Es ist eine Lüge. Doch das erfuhr sie erst nach dem Fall der Mauer fast dreißig Jahre später: Hans Räwel war bei dem Versuch, durch die Spree nach West-Berlin zu schwimmen, von DDR-Grenzsoldaten getötet worden. Von der Besatzung eines Grenzbootes entdeckt und eingekreist, wurde der wehrlose junge Mann im eiskalten Wasser, etwa 35 Meter vom westlichen Ufer entfernt, aus nächster Nähe erschossen.

Das ist eines von insgesamt 136 schockierenden Schicksalen, die in dem biografischen Handbuch „Die Todesopfer an der Berliner Mauer 1961 – 1989“ dokumentiert sind. Am gestrigen Dienstag wurde das gemeinsame Forschungsprojekt des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam und der Stiftung Berliner Mauer in der Mauergedenkstätte an der Bernauer Straße vorgestellt. Erstmals sind damit nun auf der Basis wissenschaftlicher Kriterien und umfangreicher Recherchen die Zahl der Mauertoten festgestellt und deren Biografien, ihre Todesumstände und die Machenschaften der Stasi und anderer DDR-Behörden beim Umgang mit den „Grenzverletzungen“ umfassend dokumentiert worden (wir berichteten).

Am 27. Februar des Jahres 1964 steigt der 25-jährige Walter Hayn in der Schrebergartenkolonie „Sorgenfrei“ an der Kiefholzstraße in Treptow über den Hinterlandzaun. In der Vereinsgaststätte hat er sich vorher Mut angetrunken. Er versucht den dreireihigen Grenzzaun zu erreichen, hinter dem eine West-Berliner Gartenkolonie liegt. Gegen 22.20 Uhr wird er von Wachposten entdeckt. Sie geben 17 Schüsse ab, zwei treffen Walter Hayn kurz vor dem Zaun, einer ist tödlich. Aus „Sicherheitsgründen“ erfahren die Angehörigen des Opfers von den DDR-Behörden nichts über die Umstände seines Todes.

Das Ministerium für Staatssicherheit habe in aller Regel den Umgang mit dem Tod und mit der Leiche bestimmt, sagt Projektleiter Hans-Hermann Hertle. Sie kümmerten sich um den Totenschein und die Beerdigung, gaben die Legende vor, unter der die Todesumstände verschleiert wurden oder verpflichteten die Angehörigen zum Schweigen. In elf der 136 Todesfälle wurde die wahre Todesursache geleugnet. Den Angehörigen wurde verweigert, die Toten noch einmal zu sehen. Dieses Projekt sei auch der Versuch, sagt Hertle, den Opfern ein Gesicht und eine Geschichte zu geben, nach Jahren des Verschweigens und Wegschauens Erinnerung und Gedenken zu ermöglichen.

Mit 280 000 Euro hat der Staatsminister für Kultur und Medien das Projekt untersützt, zu dem neben dem 524 Seiten umfassenden Buch auch eine umfangreiche Internetpräsentation unter chronik-der-mauer.de und ein aussagekräftiges Informationsterminal in der Gedenkstätte Berliner Mauer gehört. Letzteres präsentiert zahlreiche eindrucksvolle Dokumente, die Angehörige der Maueropfer zur Verfügung stellten, wie Projektleiterin Maria Nooke informierte.

Im Übrigen: Die Todesschützen von Hans Räwel und Walter Hayn wurden nach 1990 angeklagt. Sie zeigten kein Zeichen von Reue. 

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