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Tatort. Mit Blumen und Kerzen gedachten Berliner der Opfer des Anschlags am Breitscheidplatz.

© Sophia Kembowski/dpa

Terrorgefahr in Berlin: Anis Amri geriet Ermittlern aus dem Blick

Hat der Polizeieinsatz gegen Autonome in der Rigaer Straße die Vorbereitung des Terroranschlags am Breitscheidplatz begünstigt? Für die Gewerkschaft der Polizei eine „aberwitzige Theorie“.

Hat der Abzug von Observationsteams für einen Einsatz gegen Autonome in der Rigaer Straße das Attentat von Anis Amri am Breitscheidplatz begünstigt? Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) weist diesen Verdacht zurück. „Es wird den Opfern nicht gerecht, wenn man aberwitzige Theorien aufstellt“, sagte GdP-Sprecher Benjamin Jendro dem Tagesspiegel.

Nach Informationen dieser Zeitung sind tatsächlich einige der für islamistische Terrorverdächtige eingesetzten Observierungsteams des Landeskriminalamtes abgezogen worden, um beim Vorgehen gegen die Autonomen Unterstützung zu leisten. Es habe politischen Druck „von oben“ gegeben, heißt es intern. Und die für die Observierung zuständigen Teams des Mobilen Einsatzkommandos (MEK) waren nach den wochenlangen gewaltsamen Auseinandersetzungen in der Rigaer Straße infolge der Räumung der Autonomenkneipe „Kadterschmiede“ im Juni 2016 nicht wieder auf Amri angesetzt worden.

Das LKA veränderte die Prioritäten - auf politischen "Druck von oben"

Bleibt die Frage, ob Amris Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016 und damit der Mord an zwölf Menschen verhindert worden wäre, wenn die Polizei die observierenden Ermittler nicht von dem Islamisten abgezogen und stattdessen gegen die Linksautonomen eingesetzt hätte. Wie berichtet, hat der Grünen-Abgeordnete im Amri-Untersuchungsausschuss des Abgeordnetenhauses, Benedikt Lux, nach der Vernehmung des früheren Vize-Chefs der Mobilen Einsatzkommandos (MEK) gemutmaßt, der Anschlag könne eine nicht absehbare Folge falscher politischer Schwerpunktsetzungen unter dem damaligen Innensenator Frank Henkel (CDU) gewesen sein.

Demnach soll Amri ab 15. Juni 2016 nicht mehr observiert worden sein, weil die Rigaer Straße dann Priorität gehabt habe. Klar ist, dass Henkel damals drei Monate vor der Abgeordnetenhauswahl sein Profil schärfen wollte – und überreagierte: Ein Gericht befand die Räumung für rechtswidrig. Während Lux mit seiner Vermutung bislang nur Hakan Tas (Linke) auf seiner Seite hat, sind die Vertreter der anderen Fraktionen im Untersuchungsausschuss in der Bewertung der Aussage des MEK-Beamten zurückhaltend – auch die SPD hält die Vorwürfe für „sehr weit hergeholt“. Doch was ist dran am Verdacht?

Amri galt ohnehin nicht mehr als Top-Gefährder

GdP-Sprecher Jendro bezeichnet es als „anmaßend, eine Kausalität zwischen dem intensiven Einsatz in der Rigaer Straße und den Observationsmaßnahmen von Gefährdern zu ziehen“. Für die Gewerkschaft ist der Verdacht auch aus anderen Gründen falsch. „Selbst, wenn das MEK zeitweise in der Rigaer zu tun hatte, hakt die Theorie“, denn Amri wäre ab August ohnehin nicht zwangsläufig beobachtet worden, „weil er laut Liste nicht der Top-Gefährder war“.

Tatsächlich war die Observierung nach dem Einsatz in der Rigaer Straße nicht wieder aufgenommen worden. Im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum wurde Amris Status als Gefährder im August 2016 herabgestuft, weil sich der Verdacht – nach lückenhafter Beobachtung – nicht bestätigen ließ, obwohl Amri regelmäßig die Fussilet-Moschee, einen Salafisten-Treffpunkt, besuchte. Und die Staatsanwaltschaft, die eine Observierung bis Oktober 2016 angeordnet hatte, erkundigte sich auch nicht danach.

Als klar wurde, dass Amri sich als Drogendealer verdingt, hätten die Beschatter ihn auf frischer Tat schnappen können – wenn er weiter observiert worden wäre. Das hatte der von Innensenator Andreas Geisel (SPD) eingesetzte Sonderermittler Bruno Jost erklärt. Allerdings war die Einstufung als Drogendealer auch nur eine Hilfskonstruktion, um ihn überhaupt weiter beobachten und seine Telefonate abhören zu können.

Mehrere MEK-Teams beobachten gefährliche Islamisten

Beim Landeskriminalamt sind mehrere Teams des MEK für die Observierung islamistischer Gefährder zuständig. Im Zuge der Aufarbeitung des Terroranschlags ist deutlich geworden, dass auch akuter Personalmangel dazu beigetragen hat, dass Amri unbehelligt seine Anschlagspläne verfolgen konnte. Es gibt zu wenige MEK-Beamte, um die steigende Zahl der Gefährder, denen eine schwere Gewalttat zugetraut wird, im Blick zu behalten. Amri war aus Sicht der Staatsschutzermittler beim Landeskriminalamt einer von vielen. Es müssten immer Prioritäten gesetzt werden, heißt es in der Polizei. Amri war im Sommer nicht mehr oberste Priorität.

Der entscheidende Fehler geschah offenbar schon bei Amris Ankunft in Berlin in Februar 2016. Die nordrhein-westfälischen Behörden hatten Berlin vorab um eine verdeckte Observierung gebeten. Stattdessen wurde Amri bei seiner Ankunft durchsucht und vorläufig festgenommen – er war also vorgewarnt.

Der Untersuchungsausschuss will nun selbst auf die Dienste von Bruno Jost zurückgreifen. Nachdem Jost schon für den Senat Versäumnisse festgestellt hatte, soll der frühere Bundesanwalt für den Ausschuss die Akten der Bundesanwaltschaft im Fall Amri sichten. Weil die Ermittlungen noch laufen, sind die Akten bislang nicht freigegeben worden. Jost soll nun jene Unterlagen finden, die Hinweise auf Behördenfehler enthalten. Dann kann aber die Bundesanwaltschaft trotzdem entscheiden, ob sie die Aktenteile freigibt. Verpflichtet ist sie dazu nicht.

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