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Berlin: Unaufgeklärte Morde: Der Aktenkoffer führte zum Tod

Das Wasser des Hafenbeckens 1 spiegelt einen Himmel aus blauschwarzen Wolken-hügeln wider. Keine Welle stört das Bild.

Das Wasser des Hafenbeckens 1 spiegelt einen Himmel aus blauschwarzen Wolken-hügeln wider. Keine Welle stört das Bild. Ein stählerner Kran ist mitten in der Bewegung erstarrt. Seine Schaufel versinkt steuerbord voraus in den Kohlenhügeln neben dem Badehaus. In dem niedrigen Gebäude schrubbten sich früher die Lagerarbeiter den Staub von Briketts und Getreide aus den Ohren. Die roten Backsteine tragen einen schwarzen Flor.

Im Berliner Westhafen finden sich noch immer viele Bildklischees des Verbrechens: langgestreckte Lagerhallen mit getrübten Gitterfenstern, ausgefahrenes Kopfsteinpflaster und verwaiste Hafenbecken, in denen gelegentlich Wasserleichen an die Oberfläche kommen. In den 60er Jahren wurden hier gerne Szenen zu Edgar-Wallace-Filmen gedreht. In den Londoner Docks hätte es schließlich auch nicht schauriger ausgesehen.

Am 19. Oktober 1995, einem Donnerstag, ist es sehr kalt. Gegen 16.30 Uhr verlässt Jürgen Reinholdt wie üblich den Bürocontainer der Brennstofffirma Baumanns gegenüber dem alten Getreidespeicher und geht an den Kohlehalden vorbei zu seinem Auto, das in der Nähe des Badehauses steht. Dort warten zwei Männer auf ihn. Aus kurzer Entfernung feuern sie unvermittelt mehrere Schüsse ab, treffen Reinholdt am Oberkörper, entreißen ihm einen schwarzen Aktenkoffer und fliehen. Das Opfer stirbt kurze Zeit später im Notarztwagen.

Jürgen Reinholdt wurde 55 Jahre alt. Er arbeitete seit 1991 als kaufmännischer Angestellter und lebte mit seiner zweiten Frau und deren Tochter in Wilmersdorf. Die Freizeit verbrachte er meistens zuhause. Keine Kneipengänge, keine besonderen Hobbys. Nichts in seinem Leben hatte auch nur den Hauch des Ungewöhnlichen. Aus den Ermittlungsakten - immerhin auf vier Ordner angewachsen - lässt sich kaum ein differenziertes Charakterbild zeichnen. Ein Mann ohne Eigenschaften.

Wenn ein solcher Mensch gewaltsam zu Tode kommt, gibt es für die Kriminalpolizei kaum noch etwas aufzuklären. Es gab nur wenige Zeugen, sagt Thomas Scherhant von der 7. Mordkommission, der eine Stunde später am Tatort eintrifft. Zwei Täter sollen es gewesen sein, etwa 35 bis 45 Jahre alt, um die 1,70 Meter groß. Einer habe eine Baskenmütze getragen. Für ein Phantombild reichen die dürren Beschreibungen nicht aus.

In dem schwarzen Koffer hatte Reinholdt nur ein paar persönliche Sachen aufbewahrt: einen Stadtplan, Kugelschreiber, Butterbrote, Zeitung. Als "Stullen-Mord" geht die Tat in die Annalen der Bunt-Presse ein. Die Täter vermuteten in Reinholdt offenbar den Chef der Firma, der die Tageseinnahmen zur Bank bringt. Der Coup war schlecht vorbereitet und mit übertriebener Brutalität ausgeführt. Die Dummheit der Mörder kostete Reinholdt vermutlich das Leben. Doch die Verwechslung mit dem Chef ist für die Polizei nur eine Hypothese. Die üblichen Ermittlungen rollen an. Das Gelände wird untersucht, Mitarbeiter befragt, die Geschäftsbeziehungen der Firma Baumanns durchleuchtet.

Die Beamten kontrollieren auch Schiffe, die den Hafen anlaufen; viele davon sind aus Osteuropa. "Die waren fürchterlich dreckig. Wir hatten unsere ältesten Sachen angezogen", erinnert sich Scherhant. Das Resultat ist dürftig: 29 Hinweise gehen ein. Ein Zeuge gibt an, ihm sei ein Mercedes aufgefallen. Eine Frau will am Alexanderplatz einen schwarzen Koffer gesehen haben. Spuren, die schnell im Sand verlaufen. Acht Tage lang wird intensiv am Tatort ermittelt, dann geht der Fall an einen Sachbearbeiter, der im Bedarfsfall weitere Ermittlungen auslösen kann. Doch der Bedarfsfall tritt nicht ein. Das Profil der Täter bleibt unklar. Die Chancen, sie zu finden, werden immer geringer.

Es ist gegen 16,30 Uhr, ein Freitag, fünf Jahre, drei Monate und acht Tage nach dem Mord. Am Tatort hat sich einiges verändert. Der Bürocontainer steht noch, nur gehört er jetzt der Rheinbraun-Brennstoff-GmbH. Die Rollläden sind heruntergezogen. In der Halle 1 gegenüber dem Badhaus hat "Rahaus" ein Möbellager eingerichtet. Die Packer laden schwere Kartons in Privatautos. Davor steht ein Lastwagen aus Belorussland. Im alten Getreidespeicher gegenüber der Kohlehalde ist 1997 die Zeitungsabteilung der Staatsbibliothek eingezogen. Ihr stellvertretender Leiter Alexander Fiebig, ein Mann im schwarzen Anzug - allerdings ohne Aktenkoffer - hat von dem Fall gehört. Inzwischen habe sich das "Publikum gewandelt", sagt Fiebig. Weniger Malocher, mehr Dienstleister.

Auch ein Zahnmedizinisches Institut ist auf das Gelände gezogen. Insgesamt 112 Firmen gebe es derzeit, sagt Klaus Scholz, der an der Pforte zur Putlitzbrücke sitzt. Da entstehe wochentags meist schon ein erhebliches Getümmel. Drei Monitore hat Scholz vor sich stehen. Sie liefern Bilder von der Einfahrt, aber gerade nachts könne leicht mal ein Fußgänger durchflutschen. "Kuriose Typen" seien auf dem Gelände unterwegs. Wenn nach Geschäftsschluss noch Kohlewagen hereinfahren, ruft Scholz automatisch die Polizei an. Die Erfahrung hat gezeigt, dass sich die Beamten nicht umsonst die Mühe machen. Eingebrochen werde viel in die Bürocontainer, doch umgebracht würden wirklich nur "wenige Leute". Scholz sagt diesen Satz mit vollem Ernst. Herr Baumanns, der im Pförtnerhaus seine Geschäftsräume hat, reagiert am Telefon abweisend. Es gebe nichts mehr zu dem Fall zu sagen. Nein, Konsequenzen, was die Sicherheit angeht, habe er nicht gezogen. Gegen eine solche Tat könne man sich nicht schützen. Da sei man einfach ausgeliefert. Basta.

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