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Berlin: Unverhüllte Dekadenz und nackte Unterhaltung

Die Autorin Christine Eichel hat Teil 2 ihrer Berlin-Roman-Trilogie geschrieben. „Im Netz“ dreht die Hauptstadt-Bohème so richtig auf

Berlin war nie berühmt dafür, dass es vor Erotik hier nur so knistert. Aber vielleicht stehen wir da ja mitten in einer Trend-Wende. Im Salon des Münchner Star-Figaros Gerhard Meir ist die Philosophie-Professorin Christine Eichel durchgestartet. Da es davon auch eine Dependance in Berlin gibt, haben die beiden den zweiten Teil ihrer Trilogie über die ganz und gar haarigen Abenteuer eines zugewanderten Mähnen-Maestros an die Spree verlagert. Nun da sie einmal der ernsten Welt der hohen Wissenschaft entronnen ist, drängt die Pastorentochter weiter Richtung nackte Unterhaltung.

„Im Netz“ heißt das neue und ziemlich scharfe Solo und wirft zunächst vor allem zwei Fragen auf. Bringt der Ausdruck „Unter uns Pastorentöchtern“ wirklich eine Verpflichtung zum Tabubruch mit sich? Und würde die Schreibmaxime „Nicht ohne meinen Friseur“ bei dieser Autorin ein paar Restbestände an preußischer Prüderie gewährleisten? Denn ganz offensichtlich hat Meir einen eher besänftigenden Einfluss auf die Autorin, die nebenbei auch noch Vorlesungen über Ethik etc. hält.

So muss er vielleicht aussehen, der realistische Berlin-Roman: ein bisschen Theater-Bohème mit zickigem, sehr weltabgehobenen Regisseur, ein bisschen Crime mit Kommissaren von altem Adel und ein kräftiger Schuss Sadomaso. Der Dominus, der die Befehle erteilt, versteckt sich zunächst keusch im Computer, was in einer Stadt, in der die einschlägige Szene sich auf Massenveranstaltungen wie dem Christopher Street Day mit großer Selbstverständlichkeit präsentiert, fast rührend wirkt.

Die junge Bühnenbildnerin, die gerade den verheirateten Geliebten an einen geheimnisvollen Tod verloren hat, begibt sich, den Befehlen aus dem Netz folgend, in ein türkisches Enthaarungsstudio, zu einem amerikanischen Tattoo-Spezialisten mit erweitertem Programm, auf die Bank eines kolossalen russischen Masseurs in Charlottenburg. Zur ersten Begegnung kommt es schließlich im Dunkel-Restaurant, auch so etwas gibt es in Berlin seit einiger Zeit. Die gesamte Nutzungsvielfalt eines solchen Restaurants, in dem die Leute ganzimStockdunkelnessenund so weiter,wird mit liebevoller Ausführlichkeit ausgemalt.

Rex scheint Marthas sämtliche Geheimnisse zu kennen, sogar ihre Adresse in der Stadt, was für einen Internet-Lover eigentlich ungewöhnlich ist. Immer mehr kreist er sie ein, als sei Marthas sonstiges Leben nicht schon bizarr genug. Regelmäßig besucht sie den toten Geliebten, der im Kühllager der Anatomie von Medizinstudenten seziert wird. Auch seine Frau besucht sie und erfährt schockiert, wie sich die betrogenen Grunewald-Damen für die abendlichen Veranstaltungen in Stimmung bringen, zum Beispiel indem sie versuchen, die Geliebten ihrer verstorbenen Männer zu verführen.

Vor sechs Jahren erschien Christine Eichels erster Roman „Gefecht in fünf Gängen“, eine Satire über die Abgründe bei einem Dinner der Kulturschickeria. Dabei ging es vergleichsweise noch gesittet zu, es spielt ja auch in Hamburg. „Der Salon“, zusammen mit Gerhard Meir verfasst, kommt in seiner Beleuchtung der Münchner Schickeria auch noch vergleichsweise lieb rüber. Erst in „Erzähl mir alles!“, dem Salon-Folgeband, der in Berlin spielt, kriegt die Autorin Lust auf Abgründiges.

Die Kulturkoriphäen hat sie immer noch auf dem Kieker, aber in der berlinischen Variante tragen sie nicht nur alle Schwarz, sondern sind auch sonst ganz authentisch. Susie, die Maskenbildnerin mit pragmatisch umgesetztem Nymphomaninnen-Appetit, Marc, der schwule Dramaturg, und natürlich Rainer, der leicht größenwahnsinnige Regisseur mit dem Geheimnis im Hintergrund. Die ganze Dekadenz der Stadt zu Beginn eines neuen Jahrhunderts auf engstem Raum versammelt.

Christine Eichel, Im Netz, erschienen im Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg, 320 Seiten, 19,90 Euro

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