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Abstempeln nicht vergessen: Ohne gültiges Ticket kann es teuer werden.

© Maurizio Gambarini/dpa

Verbraucherzentrale fordert, Schuldnern entgegenzukommen: Wie eine Inkasso-Firma aus Verl an Berliner Schwarzfahrern verdient

BVG- und S-Bahn holen sich ausstehende Beträge von Schwarzfahrern über eine Inkassofirma – und das wird für Betroffene teuer. Das Prozedere wird kritisiert.

Die Fahrausweise bitte!“, ertönt es in der U-Bahn. Wer jetzt kein gültiges Ticket parat hat, der bekommt ein mulmiges Gefühl. Erwischt. Da hilft auch keine noch so gut begründete und glaubhaft vorgetragene Ausrede. Der Kontrolleur wird um 60 Euro „Erhöhtes Beförderungsentgelt (EBE)“ bitten und dem Fahrgast zum Abschied – sollte er nicht gleich bezahlen können – eine „Zahlungsaufforderung“ mit einer Frist von 14 Tagen in die Hand drücken.

Jenseits dieser Frist beginnt die Inkasso-Welt. Und in dieser werden hohe Gebühren verlangt. „Wer nicht rechtzeitig bezahlt, bekommt nach zwei bis drei Wochen ein Inkassoschreiben“, erzählt Marco Rauter von der Schuldnerberatung der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Neukölln. „Darin verdoppelt sich die ursprüngliche Forderung schnell.“

In einem Inkasso-Schreiben aus diesem Frühjahr, das dem Tagesspiegel vorliegt, werden inklusive Erhöhtes Beförderungsentgelt gar 124,50 Euro verlangt. Dazu kommen 59,40 Euro Gebühren plus Adressermittlungskosten und Zinsen. Viele Betroffene denken sich: Das muss doch rechtswidrig sein, ohne vorige Mahnung?

Geldeintreiber. Das Berufsbild hat sich gewandelt. Wo früher zwielichtige Gestalten an Wohnungstüren klopften, werden heute vor allem maschinell erstellte Schreiben versandt. Auch wird kein Geld mehr eingetrieben, stattdessen spricht man heutzutage lieber davon, „Forderungen beizutreiben“. Das nennt sich Inkasso. Eine gefragte Arbeit. Denn wer die bestellte Kleidung geliefert, eine Wand gestrichen oder einen Passagier befördert hat, der möchte dafür entsprechend entlohnt werden. Wenn Kunden von alleine nicht zahlen, können Anbieter ein Inkasso-Unternehmen beauftragen, solche offenen Forderungen einzutreiben.

Die Paigo GmbH, mit Sitz im nordrhein-westfälischen Verl, übernimmt diese Aufgabe für die BVG und Berliner S-Bahn. Der Name ist neu, bis vor wenigen Monaten nannte das Unternehmen sich noch Infoscore. Unter diesem Namen wurden in der Vergangenheit Fälle bekannt, in denen es gemeinsam mit der Anwaltskanzlei Rainer Haas und Kollegen umstrittene Inkassoverfahren mit überhöhten Gebühren und Kostendopplungen betrieben hatte.

Immer wieder melden sich Betroffene bei der Verbraucherzentrale

Die BVG-Pressestelle formuliert zu den Vorwürfen: „Der in der Vergangenheit als kritikwürdig angesprochene Punkt ist nicht mehr gegenständlich“.

Die Verbraucherzentrale Berlin kennt das Thema ÖPNV und Inkasso. Immer wieder melden sich Kundinnen und Kunden, die ein Erhöhtes Beförderungsentgelt nicht rechtzeitig bezahlt haben und dann ohne eine weitere Mahnung der Bahn ein Inkassoschreiben mit hohen Gebühren erhalten.

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Aber Irina Krüger, Fachbereichsleiterin Recht der Verbraucherzentrale Berlin, stellt klar: „Das ist juristisch korrekt. Wer ohne gültiges Ticket fährt, bekommt eine Zahlungsaufforderung. Darauf steht, dass diese innerhalb von zwei Wochen zu zahlen ist.“ Diese kalendarische Angabe ist rechtlich wichtig. „Wer innerhalb dieser Frist nicht zahlt, gerät in Verzug.“ Und Verzug bedeutet, dass ein Unternehmen den Fall an eine Inkasso-Firma abgegeben darf.

Aber die Inkasso-Firma Paigo schreibt selbst auf ihrer Homepage: „In den meisten Unternehmen sind bis zu drei Mahnungen üblich, bevor das Forderungsmanagement aus der Hand gegeben wird.“ Verpflichtend sei dies allerdings nicht.

Die Verbraucherzentrale fordert dennoch, dass die Berliner Bahnbetreiber ihren Schuldnern entgegenkommt. „Wir würden uns wünschen, dass die BVG als öffentliches und die S-Bahn als staatliches Unternehmen zumindest eine eigene Mahnung versenden, bevor sie die Fälle abgeben und dadurch die Inkassoindustrie ankurbeln“, sagt Irina Krüger.

Inkasso-Firmen können ihre Tätigkeiten zu den gleichen Gebühren wie Anwälte abrechnen

Mit 100 bis 200 Mitarbeitenden handelt es sich bei Paigo um einen der größten deutschen Inkasso-Dienstleister. Laut Dieter Zimmermann von Inkassowatch, einem überregionalen Arbeitskreis aus Wissenschaft, Verbraucherschutz und Schuldnerberatung, sei die Firma als Mitglied des Bundesverband Deutscher Inkasso-Unternehmen (BDIU) „um Seriosität bemüht“.

Doch was bedeutet das? Denn auch, wenn ein Inkasso-Unternehmen gesetzlich korrekte Gebühren verlangt, so ist umstritten, ob diese gemessen am Arbeitsaufwand gerechtfertigt sind. Denn Inkasso-Firmen können ihre Tätigkeiten zu den gleichen Gebühren wie Rechtsanwälte abrechnen.

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Allerdings unterscheidet sich die Arbeitsweise von Inkassofirmen und Anwälten meist grundlegend. „Man kann darüber streiten, ob die Höhe der Inkassokosten immer gerechtfertigt ist“, sagt auch Irina Krüger. Denn während für anwaltliche Arbeiten Einzelfälle juristisch bearbeitet werden, verschickt eine Inkasso-Firma zumeist maschinell gefertigte, standardisierte Mahnschreiben.

Was den Appell der Verbraucherzentrale an die Bahn angeht, zunächst selbst Mahnungen zu versenden, sieht man bei der BVG „aufgrund der guten und langjährigen Erfahrungen“ keinen Anlass, die eigene Inkasso-Strategie zu ändern, hieß es dort. Das derzeitige Verfahren habe sich bewährt und sei zudem branchenüblich.

Bei der S-Bahn gewähre man nach Ablauf der Frist außerdem eine Karenzzeit von zehn Tagen, im Jahr 2019 wurden 38 Prozent der offenen Forderungen beglichen, teilten die die jeweiligen Pressestellen mit. Den Hinweis, dass aus einem Infotext auf der BVG-Website nicht hervorgeht, dass nach 14 Tagen ohne Zahlung ein Inkassoverfahren eingeleitet wird, nehme man an und werde es online entsprechend anpassen.

Senatorin Pop ist skeptisch: Ist das Verfahren noch zeitgemäß?

Was sagt Wirtschaftssenatorin, Ramona Pop (Grüne), die immerhin Aufsichtsratsvorsitzende der BVG ist, dazu? „Die Senatorin sieht es skeptisch, ob dieses Verfahren noch zeitgemäß ist. Die direkte Übergabe an ein Inkassounternehmen ohne nochmalige Mahnung ist aus ihrer Sicht nicht sehr kundenfreundlich. Sie wird den Vorstand der BVG bitten, zu dieser nicht verbraucherfreundlichen Praxis Stellung zu nehmen und eine kundenfreundlichere Option zu prüfen“, sagte ihr Sprecher.

Verbraucherschützer fordern Gesetzesänderungen auf Bundesebene. Es existiert ein Gesetzentwurf „zur Verbesserung des Verbraucherschutzes im Inkassorecht“. Thomas Seethaler, Mitglied im Arbeitskreis Inkassowatch, kritisiert, dass „die vorgesehenen Inkassokosten immer noch deutlich zu hoch sind“ und befürchtet, dass in den meisten Fällen „alles beim Alten“ bleiben werde.

Die 14 Tage Zahlungsfrist sind abgelaufen, das Inkassoschreiben steckt im Briefkasten. Was also tun? Die Gebühren sind grundsätzlich rechtmäßig. „Aber bei einer konkreten Forderung“, sagt Irina Krüger von der Berliner Verbraucherzentrale, „kann man schauen, ob man die Gebühren senken kann“.

Marian Schuth

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