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© dpa

S-Bahn-Chaos: Bundesregierung greift Deutsche Bahn an

Ausgefallene Züge, entnervte Fahrgäste: Am zweiten Tag der neuen Wartungsprobleme wird der Ruf nach Konsequenzen lauter. Verkehrsministerium und Betriebsrat sehen die Schuldigen im Mutterkonzern, die Opposition fordert den Rücktritt von Senatorin Junge-Reyer.

Die Bundesregierung hat die Deutsche Bahn wegen des S-Bahn-Chaos' in Berlin scharf kritisiert. Die Bahn werde "offensichtlich ihrer Verantwortung für einen reibungslosen Verkehr nicht gerecht", sagte der Sprecher des Bundesverkehrsministeriums, Rainer Lingenthal, am Mittwoch in Berlin. Zugleich zeigte er sich überrascht von den neuen Vorfällen. "Wir erwarten einen Wechsel in der Politik der Bahn", sagte Lingenthal. Mit Blick auf die offensichtlichen Sicherheitsmängel sagte er, was offenbar hinten angestellt wurde, müsse wieder ins Zentrum rücken.

Bei einem Treffen mit dem Aufsichtsrat der Bahn am Mittwoch habe sich das Ministerium nach dem Stand der Aufarbeitung erkundigt und weitere Informationen gefordert. Zugleich gehe es darum zu klären, wann in der Stadt wieder Zustände herrschen, "die der westlichen Zivilisation angemessen" sind. Niemand habe sich in seinen "kühnsten Albträumen vorstellen können, dass eine derartige technische Katastrophe über die Stadt hereinbricht", sagte der Sprecher weiter.

Nur ein Viertel der Züge ist einsatzbereit

Mit Blick auf das drastisch zusammengestrichene Zugangebot sagte Lingenthal weiter, dass wegen der Sicherheit der Fahrgäste "keine Rücksicht auf den Berufsverkehr" genommen werden könne.

Unterdessen ist es am Mittwochmorgen am zweiten Tag in Folge zu Zugausfällen und massiven Verspätungen bei der Berliner S-Bahn gekommen. Zum Betriebsbeginn konnte mit rund 160 Viertelzügen nur ein Viertel der eigentlichen Flotte zur Verfügung gestellt werden, wie ein S-Bahn-Sprecher sagte. Die übrigen Züge stehen vor den Werkstätten Schlange, weil wegen schlampiger Wartung ihre Bremsen versagen könnten. Damit sei die Situation im Vergleich zum Vortag nahezu unverändert. Der Betriebsratsvorsitzende der Berliner S-Bahn, Heiner Wegner, forderte personelle Konsequenzen beim Mutterkonzern Deutsche Bahn. Der Berliner Senat will wegen der Zugausfälle die Zahlungen an die S-Bahn deutlich kürzen.

Nach Bahnangaben bilden die beiden Ringbahnlinien und die drei Nord-Süd-Linien weiter das Basisangebot der S-Bahn. Auf der Ost-West-Stadtbahn fahren keine Züge zwischen Alexanderplatz und Westkreuz sowie bis Wannsee und nach Spandau. Die S2 fährt den Angaben zufolge ab sofort wieder durchgehend von Bernau nach Blankenfelde. Nach Potsdam stehen als Ersatzfahrmöglichkeit vier Regionalzüge pro Stunde und Richtung zur Verfügung. In Richtung Spandau verkehren ebenfalls Regionalbahnen.

Betriebsrat: Politik des Bahn-Börsengangs ist schuld

Der S-Bahn-Betriebsratschef sagte mit Blick auf das Verkehrschaos, wenn die Politik nicht "endlich rigoros" durchgreife und Veränderungen in dem Konzern einleite, sehe er insgesamt für die Deutsche Bahn "ziemlich schwarz". "Wir haben ja noch einige im Konzern, die uns dieses Desaster eingebrockt haben", fügte er hinzu. Schuld an dem aktuellen Chaos ist nach Auffassung des Betriebsratschefs die Politik des Börsengangs bei der Bahn. Bei der S-Bahn sei aus diesem Grund "auf Gewinn, auf Rationalisierung und auf Optimierung" gedrungen worden. Das wirke sich dann "bis zu der letzten Schraube und bis zu dem Bremszylinder der Berliner S-Bahn aus".

Den für heute versprochenen stabilen Ersatzfahrplan gibt es nicht. Stattdessen wird wie schon am Dienstag nach der Faustregel gefahren, dass möglichst alle 20 Minuten ein Zug kommen soll, sofern die Strecke nicht ohnehin eingestellt ist (siehe Grafik). Selbst auf dem Ring, der mit seinem Zehnminutentakt das Rückgrat des noch vorhandenen Verkehrs bilden sollte, fuhr am Dienstag teilweise eine halbe Stunde lang kein Zug. Viele Passagiere warteten vergeblich auf den völlig überfüllten Bahnsteigen. Die BVG, die über Nacht zusätzliche Busse und Bahnen aktiviert hatte, konnte zeitweise nicht alle gestrandeten S-Bahn-Fahrgäste mitnehmen. Die BVG registrierte schätzungsweise eine halbe Million zusätzliche Kunden; auf den Straßen gab es mehr Staus als sonst. Gewöhnlich transportiert die S-Bahn rund 1,2 Millionen Fahrgäste pro Tag. Die Regionalzüge auf der Stadtbahn waren überfüllt.

Debatte um Konsequenzen verschärft sich

Die nochmalige Eskalation des Desasters hat auch die Debatte über Konsequenzen verschärft: Grüne, CDU und FDP forderten geschlossen den Rücktritt von Stadtentwicklungssenatorin Ingeborg Junge-Reyer (SPD), in der sie die Hauptverantwortliche für den Verkehrsvertrag mit der S-Bahn sehen. Zugleich solle der Vertrag sofort gekündigt und neu ausgeschrieben werden. Junge- Reyer sprach der S-Bahn „eine förmliche Abmahnung“ aus und sagte, dass eine Vertragskündigung reine Symbolpolitik wäre, weil kein anderer Betreiber zur Verfügung stehe. Auch Klaus Wowereit wies gestern Forderungen nach einer Vertragskündigung zurück.

SPD-Fraktionsgeschäftsführer Christian Gaebler will die Entscheidungshoheit Berlins über den Nahverkehr zurückgewinnen, indem die landeseigene BVG bis zum Vertragsende 2017 auf die Übernahme des S-Bahn-Betriebes vorbereitet wird. Nur so könne man sich aus der Abhängigkeit von einem Privatunternehmen und dessen Profitinteressen befreien. Kurzfristig könne man auch über einen Sitz im Aufsichtsrat Einfluss nehmen. Linken-Landeschef Klaus Lederer forderte den Senat auf, einen Krisenstab einzurichten und ein „Schattenverkehrsnetz“ als S-Bahn-Ersatz einzurichten. Die Kosten dafür müsse die Bahn tragen. Das Abgeordnetenhaus wird sich am Donnerstag in einer Aktuellen Stunde voraussichtlich mit dem Chaos befassen.

Zurzeit fahren die S-Bahnen auf den meisten Strecken am Stadtrand etwa alle 20 Minuten. Im Nord-Süd-Tunnel fährt nur die S1. Spandau ist nur mit Regionalzügen erreichbar, ebenso die Innenstadt westlich des Alexanderplatzes. In der City bietet sich teilweise die verstärkte U2 als Ersatz an, mit der auch die Funkausstellung IFA erreicht werden kann. (mit ho/ddp)

Informationen: www.s-bahn-berlin.de (Tel.: 29 74 33 33) und www.vbbonline.de (Tel.: 25 41 41 41).

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