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Landesarchiv

© Thilo Rückeis

Tag der Archive: Verschachtelte Vergangenheit

Expedition ins Gedächtnis der Stadt: Am Samstag öffnet das Landarchiv seine Türen und zeigt seine Schätze der Öffentlichkeit - mehrere Millionen Akten und Fotos.

Die Kripobeamten glaubten nicht an einen Selbstmord. „Frau Binger wurde mutmaßlich aus dem S-Bahnzug geworfen“, steht im Ermittlungsprotokoll vom 9. Januar 1941. Kurz zuvor hatte man die junge Frau tot an den Gleisen bei Rahnsdorf gefunden. Die Mordkommission ging sogleich von einer Gewalttat aus, weil der Ehemann der Toten „überzeugend darlegte, wie glücklich man gerade zusammen das Weihnachtsfest begangen habe“. Sechs Monate brauchte die Kripo noch, bis sie den Berliner S-Bahnmörder Paul Ogorzow fassen konnte. Bis dahin hatte er sieben Frauen nachts aus Zügen gestoßen.

Heute lagert der spektakuläre Fall in grauen Kartons am Eichborndamm in Reinickendorf, wie alle anderen Dokumente des einstigen Polizeipräsidiums am Alexanderplatz, die nach 1815 entstanden. Und nicht nur die. Welchen gewaltigen Fundus aus der Geschichte der Stadt das Landesarchiv Berlin besitzt, können Besucher am kommenden Sonnabend zumindest erahnen – beim vierten „Tag der Archive“ des Verbandes der Archivare Deutschlands.

Tausende Kartons, etwa doppelt so groß wie eine Schuhschachtel, bergen die protokollierte Kriminalgeschichte Berlins bis 1945. Gestapelt sind die Kartons in meterhohen Metallregalen, die sich auf Rollen verschieben lassen. „Aber das ist ja nur ein kleiner Teil unseres riesigen Besitzes“, sagt die Sprecherin des Archivs, Sabine Preuß. Dann führt sie ihre Besucher eine Stunde lang durch den weitläufigen Backsteinbau von 1906: einst Sitz einer Waffen- und Munitionsfabrik, heute das Gedächtnis der Stadt.

Im Inneren sieht es nüchtern aus. Hinter den Türen, die Sabine Preuß öffnet, erscheinen weitere schier endlose Magazingänge mit Rollregalen. Doch jeder Griff in die Kartons fördert Berliner Geschichte und Geschichten zu Tage. Zum Beispiel in der Regalreihe mit Anträgen und Protokollen der einstigen Stadtverordnetenversammlung seit 1808 und des Abgeordnetenhauses seit 1950. „Hier, da ist der Streit um den Maulkorbzwang für Hunde von 1863 “, sagt sie. Nebenan kann man den jahrelangen Zank um die Trasse der Stadtautobahn nachlesen.

63 Mitarbeiter kümmern sich um den gesamten Fundus mit Dokumenten aus dem öffentlichen Leben Berlins seit dem Mittelalter. Nach dem Landesarchivgesetz sammeln und ordnen sie alles Gedruckte vom Senat und den Landes- und Bezirksbehörden sowie von Theatern und anderen Einrichtungen. Auch die Meldekartei von 1840 bis 1960 gehört dazu. Außerdem seit der Wende das Stadtarchiv Berlin-Ost. Und Nachlässe sowie Sammlungen mit zwei Millionen Fotos, Stadtkarten und Plakaten. Veränderungen jedes Viertels lassen sich verfolgen, kulturelle Ereignisse werden lebendig.

Im Lesesaal sitzen Familienforscher neben Architekten, Wissenschaftler neben Lokalhistorikern und studieren Unterlagen aus dem gesammelten Schatz im Original oder auf Mikrofilm. Doch das Problem bei alledem ist der Platz. Der ist knapp, denn das Archiv wird ständig erweitert. Auch Akten aus dem Moabiter Kriminalgericht kommen hinzu. Sie landen im Justiz-Magazin, das weit zurückreicht. „Diese Mappe“, sagt Sabine Preuß, „hat schon Carl Zuckmayer für sein Stück ,Der Hauptmann von Köpenick’ studiert“. Es sind die Protokolle zur Verhandlung gegen den Schuhmacher Wilhelm Voigt von 1906.

Das Landesarchiv bietet am Sonnabend zwischen 10 und 16 Uhr Führungen durch die Magazine, die Restaurierungswerkstatt oder die Fotosammlung an. Motto: „Berlin – bärenstark“, denn angesichts von Knut werden auch Bärengeschichten aus der Vergangenheit präsentiert. Der Lesesaal ist Dienstag–Donnerstag 9-18 Uhr und freitags 9-15 Uhr geöffnet. Tel.: 902640, www.landesarchiv-berlin.de

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