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Strichweise weiter. Ein Wahlhelfer streicht am Sonntag die abgegebenen Stimmen in einem Wahllokal. Rund 2,47 Millionen Berliner waren zur Wahl aufgerufen. Foto: dpa

© dpa

Berlin: Vom stimmungsvollen zum stimmlosen Volk

Zu Besuch in der Landstadt Gatow und in der Allee der Kosmonauten, den Kiezen mit der höchsten und der niedrigsten Wahlbeteiligung

Erstmal geht es auf der Potsdamer Chaussee kilometerlang durchs Grüne. Nur Wälder und Felder, von Menschen und damit von potentiellen Wählern keine Spur. In dieser Abgeschiedenheit nahe der Berlin-Brandenburgischen Grenze im Spandauer Ortsteil Kladow sollen bei der letzten Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus 2006 prozentual die meisten Menschen gewählt haben? Kaum vorstellbar. Doch so sagt es die Statistik, und Zahlen lassen sich schließlich nicht täuschen: Von damals 758 Wahlberechtigten haben in der so genannten Landstadt Gatow auf dem ehemaligen britischen Militärflugplatz vor fünf Jahren 498 Menschen gewählt, das sind rund 66 Prozent – acht Prozent mehr als im Berliner Durchschnitt. Dabei entfielen knapp 36 Prozent auf die CDU und rund 32 Prozent auf die SPD, Grüne und FDP kamen über zehn, die Linke erreichte hier gerade mal etwas über ein Prozent.

Tatsächlich ist auch an diesem Wahlsonntag am Wahllokal mit der Nummer 513 in der Mary-Poppins-Grundschule bereits gegen halb elf Einiges los. Die Regengüsse haben aufgehört, und vor dem modernen Schulgebäude stehen mehrere Eltern mit kleinen Kindern. Einige Schritte weiter unterhält sich eine Gruppe von Best Agern, lässig schwingen sie die Nordic-Walking-Stöcke. Ein angebundener Hund kläfft mit nicht nachlassender Ausdauer Neuankömmlinge an. Denn immer mehr Menschen kommen die Straße Am Flugplatz Gatow hinunter, als gäbe es hier etwas umsonst. Dabei sind Kaffee und Kuchen, Prosecco und Würstchen im Eingang des Schulgebäudes nicht kostenlos. Doch das kulinarische Angebot des Fördervereins der Schule trägt zu der freundlichen Atmosphäre bei, mit der die Wähler in der Schule begrüßt werden. So bringt man das Stimmvolk in Stimmung. „Das machen wir bereits zum dritten Mal so“, sagt Schulleiterin Irmgard Schadach, die an diesem Tag auch als Wahlhelferin vor Ort ist. Sie glaubt, dass die hohe Wahlbeteiligung daraus resultiert, „dass in diesem Stimmbezirk so viele interessierte Bürger und engagierte Eltern wohnen“. Wirklich bringt fast jeder zweite hier ein Kind mit zur Wahlkabine. „Papa, zeigst Du mir, wo ich für dich die Kreuze hinmalen soll?“ fragt ein Siebenjähriger seinen Vater und der sagt: „Klar.“ Wahl-Früherziehung nennt sich das wohl.

Gegen elf Uhr haben schon 142 Menschen gewählt – trotz eines erst schleppenden Beginns, der vielleicht zum Teil dem morgendlichen starken Regen und nach Meinung Schadachs bei vielen Wählern auch dem Besuch der Gottesdienste geschuldet war. Da in der Landstadt Gatow inzwischen bereits rund 1300 Wahlberechtigte wohnen, sind zwar erst rund elf Prozent gekommen aber der Wahltag ist schließlich noch lang.

In der Nachbarschaft des Schulgebäudes wird klar, wie sehr die Umgebung von jungen Familien mit Kindern geprägt ist: In dem Neubaugebiet mit den vielen Einfamilienhäuser, in deren teils noch nicht fertigen Gärten Schaukeln, Sandkästen und Fahrräder stehen, entsteht gerade eine weitere große Kita, es gibt viel Grün und verkehrsberuhigte Straßen. „Die meisten hier haben Kinder, sie haben ihre Häuser selbst gebaut und sind es gewohnt, eigene Entscheidungen zu treffen. Daher möchten sie auch die Zukunft mitentscheiden“, sagt Stephanie Schönberg, die mit ihrem kleinen Sohn zur Wahl gekommen ist.

Auf den ersten Blick sieht es etwa 34 Kilometer weiter östlich, im Stimmbezirk 319 in Lichtenberg, gar nicht viel anders aus. Doch das liegt hauptsächlich an einem Hauch von Landleben, den Dutzende von Rauhwolligen Pommerschen Landschafen, die auf einer großen Wiese friedlich vor sich hin grasen, in die Allee der Kosmonauten bringen. Während die Schafe interessanterweise alle schwarz sind, ist der Stimmbezirk tiefrot: 2006 brachte es die Linke auf 33 und die SPD auf rund 30 Prozent – bei einer Wahlbeteiligung von nur rund 21 Prozent, der niedrigsten in ganz Berlin. Auch an diesem Wahlsonntag liegt sie nach fünf Stunden erst bei rund zehn Prozent. „Sehen Sie sich um, dann wissen Sie, warum das so ist“, sagt ein Wahlhelfer im Oberstufenzentrum Hein-Moeller-Schule, dessen nur dürftig geräumte Cafeteria wenig einladend wirkt. Hier gebe es vor allem Alten- und Behindertenwohnheime, Industrieflächen und Studentenwohnheime, so der Mann. „Viele der Studenten sind am Wochenende gar nicht in Berlin, und viele der hier lebenden Ausländer dürfen nicht wählen“, sagt der Wahlhelfer. Von den „uninteressierten Arbeitslosen, die null Bock auf Nichts haben“ spricht dann nicht er, sondern ein Wähler draußen auf dem Schulhof. Der hat einen harten Blick und will schnell wieder weg. Viele Schafe? Nee, die habe er auf dem Hinweg gar nicht gesehen.

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