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Der Stadthistoriker Fred Riedel forscht zum verschwundenen Tiergartenviertel.

© Thilo Rückeis

Von der Insel der Künste zur unbewohnten Ödnis: Das Tiergartenviertel zwischen Kunst und Kapital

Da wo früher berühmte Berliner wie Theodor Fontane und Emil Rathenau wohnten, macht Fred Riedel heute Führungen.

Wo sich früher ein Tor zur Alten Philharmonie öffnete, stehen heute blaue Mülltonnen. Fred Riedel beugt sich über eine goldene Platte, die in den Boden am Rande der Bernburger Straße in Kreuzberg eingelassen ist. „Dieser Weg führt zum Ort der Alten Philharmonie 1882 – 1944“, steht da zwischen den Hausnummern 21 und 22. Sonst erinnert nichts mehr an den Bau, der in einem Hof verborgen lag. Das Gebäude wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. „Und jetzt stellen die da Mülltonnen hin“, sagt Riedel. So viel Geschichtsvergessenheit ärgert ihn.

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Riedel ist Stadthistoriker aus Leidenschaft, so nennt er es. Sein Beruf war eigentlich ein anderer. Geboren 1935 in Leipzig, erlebte er als Kind den Krieg. Später studierte er Informatik in Berlin und arbeitete als Hochschuldozent. Nach seinem Studium war er drei Jahre lang Lektor bei einem Verlag in Frankfurt. Als er zurückkam, fand er das graue Berlin plötzlich hässlich. Er war drauf und dran, wieder wegzuziehen, als ein Freund zu ihm sagte: „Du musst diese Stadt verstehen.“ Das nahm sich Riedel zu Herzen. Ein Jahr lang spazierte er daraufhin durch die Straßen und beschäftigte sich mit der Stadtgeschichte.

Die Berlinerinnen und Berliner wissen viel zu wenig über ihre Stadt, findet Riedel. Gegen die Unwissenheit macht er nun Führungen und erklärt, wie es früher aussah. Eine dieser Touren führt in den „Alten Westen“ – über den Potsdamer Platz in das mittlerweile verschwundene Tiergartenviertel. Zwischen Landwehrkanal und Tiergarten, wo sich heute Philharmonie, Gemäldegalerie und Botschaften befinden, entstand Mitte des 19. Jahrhunderts ein nobler Villenbezirk. Dort waren berühmte Künstler, Politiker und Unternehmer zu Hause.

Von den alten Gebäuden ist kaum noch eins erhalten, eine Ausnahme ist die St. Matthäus-Kirche. An diesem Herbsttag schieben sich Bagger träge über den matschigen Vorplatz, dahinter leuchtet die goldene Fassade der Philharmonie. Riedel zeigt Richtung Potsdamer Straße. „Da sind die Russen mit Artillerie durchmarschiert“, sagt er. „Der Weg führte zum Reichstag.“ Nicht nur Bomben zerstörten das Viertel, schon vor dem Krieg hatten die Nationalsozialisten für die Errichtung von Albert Speers „Welthauptstadt Germania“ Villen abreißen lassen. Jüdische Besitzer wurden enteignet.

Eine Insel der Künste und Wissenschaft

In der Hiroshimastraße entstanden die Botschaften der verbündeten Staaten Italien und Japan, die dort bis heute ihren Sitz haben. Für das Gelände rund um die St.-Matthäus-Kirche hat der Stadthistoriker nun nicht mehr viel übrig. Für ihn ist es „eine unbewohnte Ödnis, umstellt von bemerkenswerten, aber zusammenhangslos platzierten Solitären.“ Damit meint er Gebäude wie die Philharmonie und die Neue Nationalgalerie.

Ein Grundriss Berlins aus dem Jahr 1849.
Ein Grundriss Berlins aus dem Jahr 1849.

© F. Boehm/Digitale Bibliothek der Universität Wroclaw

Vor seiner Zerstörung war das Tiergartenviertel „eine Insel der Künste und der Wissenschaft, der Literatur, der Politik und natürlich des Kapitals“, sagt Riedel. Im 19. Jahrhundert lebten hier Prominente wie die Gebrüder Grimm, Theodor Fontane, Joseph von Eichendorff und AEG-Gründer Emil Rathenau in geräumigen Villen.

Vor den Häusern lagen Gärten. Im Gegensatz zum nahegelegenen Potsdamer Platz war es hier ruhig, beinahe ländlich. Die Dichterin Wilhelmine Bardua beschrieb es so: „In den Gärten sangen die Nachtigallen, hinter der Kirche hörte man Frösche und Unken.“ Bardua führte einen von zahlreichen Salons, in denen sich die Bewohner des Viertels trafen.

Karte des ehemaligen Tiergartenviertels.
Karte des ehemaligen Tiergartenviertels.

© Tsp/Böttcher

1838 eröffnete am Potsdamer Platz der erste Bahnhof Berlins

Der Maler Adolph von Menzel, vom Kaiser hochdekoriert und geschätzt, hatte sein Atelier in der Sigismundstraße, sein Freund Max Liebermann wohnte nicht weit entfernt in der Bendlerstraße. Bei Künstlern war das Viertel beliebt. Moderne Kunsthandlungen wurden eröffnet, wie die der Händler Bruno und Paul Cassirer in der Victoriastraße. Die Galerie zeigte Bilder von Vincent van Gogh und Paul Cézanne. Um die Jahrhundertwende etablierte sich hier die Avantgarde.

Die Häuser Viktoriastraße 6 und 5 (Straße existiert nicht mehr), gezeichnet um 1860.
Die Häuser Viktoriastraße 6 und 5 (Straße existiert nicht mehr), gezeichnet um 1860.

© Friedrich Hitzig/aus: Architektonisches Skizzenbuch, H. 44/1, 1860/ Digitalisat des Architekturmuseums der TU Berlin

Nicht weit entfernt lag der Potsdamer Platz. „Es war der lauteste und am stärksten frequentierte Platz in Berlin“, sagt Riedel. Fünf Straßen mündeten in einer sternförmigen Kreuzung. 1838 eröffnete hier der erste Bahnhof Berlins. Um ihn herum wurden Grand Hotels gebaut, prächtige Häuser mit verzierten Fenstern und Stuck. Man traf sich in Kaffeehäusern oder Tanzsälen.

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Wo heute ein Bürogebäude an der Ecke zur Stresemannstraße steht, war das Haus Vaterland. Ein achtstöckiges Gebäude mit geschwungener Fassade und einer Kuppel. Innen reihten sich Restaurants, Weinstuben und Varietétheater aneinander. „Dort sind die Leute damals hingegangen, so wie die Berliner heute in Clubs gehen“, sagt Riedel. In einem Restaurant kam stündlich ein künstliches Gewitter mit Regen und Blitzen von der Decke. Vor allem in den 1920er Jahren war der Vergnügungspalast berühmt.

Die Potsdamer Brücke über den Landwehrkanal um 1890.
Die Potsdamer Brücke über den Landwehrkanal um 1890.

© Wikimedia Commons

Die Villa Parey wurde in die Gemäldegalerie integriert

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das stark beschädigte Gebäude wie andere Ruinen am Potsdamer Platz abgerissen – bis auf Reste des Hotels Esplanade mit dem Kaisersaal. Für Fred Riedel ist das eine Schande. „Man hätte viel mehr wiederaufbauen können“, sagt er. Später gab es um eine der wenigen erhalten Villen des Tiergartenviertels Streit. Die Villa Parey in der Sigismundstraße sollte in den 1980er Jahren der Gemäldegalerie weichen. Riedel erinnert sich noch an die Proteste von Studenten, dank denen der Abriss verhindert wurde.

Die Villa Parey wurde letztendlich in den Bau der Gemäldegalerie integriert. Heute ist das zierliche Haus mit den spitzen Giebeln Zeuge einer längst vergangenen Zeit.

Die Stiftung St. Matthäus erinnert in einer Vortragsreihe an das Tiergartenviertel. An einem der letzten verbliebenen Orte, der St. Matthäus-Kirche, kommen die ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohner wieder zu Wort. Schauspieler lesen Zitate zu klassischer Musik. Am 21. Februar wird die Geschichte von 1900 bis 1933 erzählt, am 17. April geht es um die Zeit von 1933 bis 1950. Führungen mit Fred Riedel werden auf der Internetseite der Stiftung bekannt gegeben: www.stiftung-stmatthaeus.de.

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