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Loretta Ihme.

© Mike Wolff

Wenn Ärzte und Eltern über die Behandlung streiten: Kinderschutzkoordinatorin hilft bei Entscheidung über Leben und Tod

Im Zweifel dürfen Ärzte junge Patienten auch gegen den Elternwillen behandeln, es gibt dafür sogar eine gesetzliche Grundlage. Für allzu komplizierte Fällen hat die Charité aber eine Kinderschutzkoordinatorin, die versucht, zu vermitteln.

Von Sandra Dassler

Ärzte können Kinder auch gegen den Willen ihrer Eltern behandeln oder therapieren, wenn ansonsten ein gravierender Schaden oder gar der Tod droht. Das sagte der Sprecher der für die Charité zuständigen Senatsverwaltung für Wissenschaft, Thorsten Metter, dem Tagesspiegel: „Grundsätzlich hat ein Krankenhaus die Möglichkeit, das Familiengericht selbst direkt anzurufen und einen Antrag auf Ersatz der Zustimmung der Eltern für die notwendige medizinische Behandlung des Kindes zu stellen.“

Allerdings seien solche Fälle äußerst selten, sagte der Sprecher der Berliner Zivilgerichte, Ulrich Wimmer. Dass der Fall der an Knochenkrebs erkrankten Adina A. (Name geändert) aus Kreuzberg am kommenden Freitag am Familiengericht verhandelt wird, wollte er nicht bestätigen. Wie berichtet sind die Ärzte im Virchow-Klinikum der Charité der Ansicht, dass der Sechsjährigen ein Unterschenkel amputiert werden muss, damit der Krebs nicht Metastasen streut. Die Eltern des Kindes verweigern bisher die Zustimmung, deshalb schalteten Ärzte und Jugendamt auch das Familiengericht ein.

Der Vater des Kindes, ein Kreuzberger mit türkischem Pass, wandte sich an den türkischen Generalkonsul und Berlins Gesundheitsstaatssekretärin Emine Demirbüken-Wegner (CDU). Bei einem Treffen in der Charité wurde vereinbart, dass der Vater drei Ärzte benennt, die für ein weiteres Gutachten in Frage kommen.

Wie eine mit der Familie befreundete Dolmetscherin dem Tagesspiegel sagte, steht noch nicht fest, welches Krankenhaus das Gutachten oder die Behandlung übernehmen soll. Im Gespräch sei ein Klinikum in Münster, sagte sie. Sollte es keine Entscheidung geben, könnte am Freitag das Familiengericht entscheiden.

Weder Charité noch Jugendamt noch das Gericht wollen sich zu dem konkreten Fall äußern. Dass ein Richter die Zustimmung beider Eltern ersetzt oder einen Vormund bestellt, der dann die Entscheidung für die Behandlung trifft, sei eher ungewöhnlich, sagt Gerichtssprecher Wimmer. Kollegen könnten sich nur an etwa ein Dutzend solcher Fälle in den letzten Jahren erinnern. Häufiger seien Auseinandersetzungen zwischen Eltern, wenn beispielsweise die Mutter das Kind impfen lassen will, der Vater aber nicht.

Loretta Ihme, die Kinderschutzkoordinatorin der Charité, kennt zwar viele Fälle, in denen Ärzte ihre jüngsten Patienten in Gefahr sehen. Meist, sagt sie, gehe es dabei aber um drogenabhängige oder schwer psychisch kranke Mütter und Väter, die einfach nicht in der Lage seien, ihre Kinder angemessen zu versorgen.

Oder um Eltern, die mit der Behandlung beispielsweise schwerst körperlich behinderter Kinder überfordert seien. „Da können wir oft präventiv tätig werden“, sagt sie: „Und wir versuchen das natürlich immer zuerst in Kooperation mit den Eltern – selbst in Fällen, bei denen wir aufgrund von Verletzungen annehmen müssen, dass Kinder geschlagen wurden.“

Mit „wir“ meint Loretta Ihme die aus mehr als einem Dutzend Sozialarbeitern und Ärzten bestehende Kinderschutzgruppe der Charité, die sie leitet. Der Gruppe geht es darum, Probleme bei überforderten Eltern frühzeitig zu erkennen. „Die meisten Mütter und Väter wollen ja, dass es ihrem Kind gut geht“, sagt sie: „Aber einige schaffen es nicht.“

Allein im Jahr 2011 hat die Kinderschutzgruppe der Charité 570 Fälle von Kindeswohlgefährdung registriert und zu lösen versucht. Meistens wurde das Jugendamt informiert, in 180 Fällen musste sofort eingeschritten werden.

Die gesetzliche Grundlage dafür ist die sogenannte Offenbarungsbefugnis der Ärzte, wenn sie das Kindeswohl in akuter Gefahr sehen. Sie dürfen auch selbst das Familiengericht anrufen. Das könne beispielsweise notwendig sein, wenn das Jugendamt die Gefahr für das Kind nicht so hoch wie die Ärzte einschätze, sagt Loretta Ihme.

Dies sei zwar selten, aber sie erinnere sich noch gut an den Fall des zweijährigen Kevin, der 2006 in Bremen von seinem Stiefvater erschlagen wurde. Damals hatten Ärzte zuvor schon Verletzungen an dem Kind festgestellt und das Jugendamt informiert. Dort hieß es, man sei in der Familie tätig, die Ärzte verließen sich darauf. So etwas soll hier nicht passieren – auch deshalb ist Loretta Ihme froh, dass die Charité sich als einzige Einrichtung in Deutschland die Stelle einer Kinderschutzkoordinatorin leistet.

Der Fall von Adina A. sei natürlich ganz anders und sehr ungewöhnlich, sagt sie, ohne auf Details einzugehen. Aber grundsätzlich machten sich Ärzte ja Entscheidungen über Eingriffe und Behandlungen nicht leicht. „Da gibt es Beratungen innerhalb des Hauses und im Zweifel wird auch die Meinung eines externen Kompetenzzentrums eingeholt“, sagt sie. Und generell gelte, dass niemand Eltern zu Behandlungen dränge, wenn es nicht um gravierende Schäden beziehungsweise sogar um Leben oder Tod gehe.

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