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Ein Mann mit Mund-Nasen-Schutz am Berliner Hauptbahnhof

© dpa/Christoph Soeder

Reisebeschränkungen wegen Corona: West-Berliner erinnert das an alte Mauerzeiten

Die globale Corona-Pandemie kettet die Menschen gerade an ihren Wohnort. Die neuen Grenzen sind verstörend – weil sie unsichtbar und mobil sind. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Andrea Nüsse

Selten waren zwei gegenläufige Bewegungen so zu spüren wie jetzt: Die weltweite Verbreitung der Covid-19-Pandemie ist ein wahrhaft globales Phänomen; es führt dazu, dass viele Menschen sich gerade kaum noch von ihrem Wohnort wegbewegen können. Fernreisen waren schon längst gestrichen, Mallorca und Südfrankreich als Risikogebiete mit komplizierten Quarantänevorschriften bei der Rückkehr auch nicht praktikabel, und pünktlich zu den Berliner Herbstferien darf man als Berliner nicht mal in Werder ins Hotel gehen.

Das hat es in dieser Form noch nie gegeben. Eigentlich ging die Entwicklung, zumindest in Europa, immer in die umgekehrte Richtung: Die deutsche Mauer fiel, der Ostblock öffnete sich. In der EU brauchte man nicht mal mehr einen Personalausweis.

Und dank der Billigflieger jettete plötzlich fast jeder übers Wochenende nach Barcelona oder in den sommerlichen Türkeiurlaub. War meist auch billiger als Urlaub in Deutschland. Im diesem Sommer fiel das fernere Reisen schon weg, plötzlich wurde der Urlaub in Deutschland, die Entdeckung des Naheliegenden gepriesen.

Doch das ist nun auch schon wieder passé. Berlin als Stadtstaat ist besonders betroffen von dieser Art der Wegfahrsperre. Wollen die Bewohner die Stadt verlassen, müssen sie direkt in ein anderes Bundesland einreisen. Und gerade dünnbesiedelte Flächenländer, die der Großstädter bisher belächelte, wollen jetzt die coolen Typen gar nicht haben.

West-Berliner verbachten das Wochenende zwischen Wannsee, KaDeWe und Kreuzberg

Das ist eine kuriose Umkehr des Stadt-Land-Gefälles, in dem die entsiedelten Regionen bisher als die großen Verlierer dastanden. Andere Ironie: In der deutschen Hauptstadt – durch die eine Mauer führte, die Millionen Menschen im Osten daran hinderte, ihr Land zu verlassen – ist nicht das Wegfahren verboten, sondern die Ankunft in anderen Bundesländern.

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West-Berliner ab einem bestimmten Alter werden wohl am besten mit dem neuen Zwang zur Sesshaftigkeit zurechtkommen – ist der Zustand so einmalig für sie doch gar nicht: Sie saßen jahrzehntelang, eingeschlossen von der Mauer, in ihrer Stadt fest. Wochenendausflüge ins Umland gab es nicht, mal schnell zu Freunden in die Nachbarstadt zu fahren auch nicht.

Das Wochenende verbrachte man im Dreiländereck Wannsee, KaDeWe und Kreuzberger Kneipen. Und für richtig große Ferien setzte man sich im Interzonenzug oder mit dem Auto in Richtung der innerdeutschen Grenzübergänge in Bewegung – um viele Stunden später, nach nervenaufreibenden Grenzkontrollen, Lokomotivwechseln oder dem Schleichen mit Tempo 100 über die ruckeligen Transitstrecken im Wendland oder in Ratzeburg den Duft der großen weiten Welt zu schnuppern.

Heute sind die Grenzen unsichtbar, administrativ - und verstörend mobil

Damals waren die Grenzen starr und nicht zu übersehen: Die Mauer aus Beton und Stacheldraht, mit Wachtürmen – nur die Wassergrenzen mitten im Wannsee oder in der Havel wurden mit dem Bötchen schon mal versehentlich passiert.

Heute sind die neuen Grenzen innerhalb Deutschland ganz und gar unsichtbar, administrativ und – was vielleicht am meisten verstört – sie sind, im Gegensatz zu den Reisenden, extrem mobil: Sie verändern ihren Verlauf täglich und wer eine Reise plant, fühlt sich manchmal wie der Hase im Wettlauf mit dem Igel: Immer wenn man losfahren will, war schon wieder jemand schneller und das Reiseziel ist plötzlich Tabu.

Worüber wir jetzt jammern, sind allerdings Luxusprobleme. Ohne Corona-Beschränkungen öffnet den Deutschen ihr Pass fast jede Tür und Grenze – Deutsche dürfen in 177 Länder ohne Visum einreisen, in den meisten anderen erhalten sie es problemlos bei der Einreise am Flughafen. Ganz anders als für die Menschen aus dem globalen Süden, für die der Rest der Welt in der Regel ziemlich verschlossen ist. Das mag kein Trost für Berliner sein, deren Herbsturlaub ausfällt. Aber vielleicht das: Es wird nicht 28 Jahre dauern, bis es wieder freie Fahrt von und nach Berlin gibt.

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