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Willkürliche Anschläge: Die Täter wollen Angst erzeugen

Giftmischer auf dem Weihnachtsmarkt, Zündler im Treppenhaus, Steinewerfer an der Autobahn - wer tut so etwas? Die Täter haben meist ein schwaches Ego. Ihnen geht es darum, sich einmal mächtig zu fühlen.

Dass sie unter uns sind, merken wir meistens erst, wenn es mal wieder zu spät ist. Wenn wir von ihren Taten in Zeitungen lesen oder im Radio hören. Von Taten, die einen erst stutzen und dann erschauern lassen, weil sie so absurd sind, dass man sich fragt: Wer tut so etwas?

Wer füllt Gift in Schnapsfläschchen und bietet diese dann Menschen mit der Bitte an, auf die eben geborene Tochter zu trinken? Ganz neu ist das nicht, sagt die Polizei, man kennt Ähnliches – allerdings aus Kneipen oder Bars. Dort ließen Kriminelle in unbeobachteten Augenblicken auch schon mal betäubende Mittel in Wein- oder Cocktailgläser fallen.

Das hatte aber zumindest einen, wenn auch makabren Sinn: man wollte die Opfer berauben oder sie sich sexuell gefügig machen. Aber was hat der Typ vom Weihnachtsmarkt, der nach dem Anstoßen stets verschwindet und nach dem immer noch gesucht wird, von seiner Giftmischerei? Oder ist er einfach nur verrückt?

Gefühlt nimmt die Zahl solcher scheinbar sinnlosen Anschläge zu. Man erinnere sich nur an die Unbekannten, die im Volkspark Mariendorf mit Dartpfeilen auf Schwäne warfen. Einem Tier blieb ein Pfeil im Kopf stecken, niemand konnte helfen. Oder an die nie gefassten jungen Männer, die die Kinder auf Spandauer Spielplätzen mit einem Gemisch aus Wodka und Limonade abfüllten. Ein Siebenjähriger kam mit mehr als zwei Promille im Blut ins Krankenhaus.

Natürlich trage auch die Berichterstattung über solche Taten zur Verunsicherung der Bevölkerung bei, sagt der Erziehungswissenschaftler und Psychologe Herbert Scheithauer von der Freien Universität: „Nahezu 3,5 Millionen Menschen in Berlin verhalten sich überwiegend normal, sind nicht kriminell und erleben auch keine dramatischen Ereignisse. Das ist aber natürlich nicht das, worüber die Medien berichten. So kann bei Menschen, die nicht gelernt haben, damit umzugehen, ein verzerrtes Bild der Realität entstehen.“

Zur Berliner Realität gehört aber auch, dass auf den Flughäfen Schönefeld und Tegel seit Jahren Piloten im Landeanflug von Unbekannten mit Laserlicht geblendet werden. Und erst am Freitag wurden wieder zehn Steine von einer Autobahnbrücke der A10 geworfen – obwohl schon viele Menschen deshalb Leben oder Gesundheit verloren. Ähnlich ist es mit dem Anzünden von Kinderwagen oder Papiereimern in Treppenhäusern, das schon einigen Berlinern das Leben kostete. In der Nacht zu Sonnabend hatten Anwohner der Grüntaler Straße in Gesundbrunnen glücklicherweise den Rauch im Müllraum noch bemerkt – ebenso wie eine Mieterin den Brand im Keller in der Reinickendorfer General-Barby-Straße. In beiden Fällen vermutet die Polizei Brandstiftung. Solche Taten sind für „normale Menschen“ so unüberlegt und absurd, dass sie die Täter als unberechenbar erscheinen lassen – das lässt die Gefühle von Bedrohung und Angst wachsen.

Und genau das verbindet die „irren Täter“, sagt die Direktorin der Psychiatrie im Benjamin-Franklin-Klinikum, Isabella Heuser: „Es sind in aller Regel Menschen mit einem sehr geringen Selbstwertgefühl, die wenig zu sagen haben. Sie wollen Macht und Kontrolle über andere ausüben, indem sie Angst erzeugen. Das gibt ihnen den Kick, macht sie vermeintlich stark und wichtig.“

Und die Medien tun ihr Übriges.

Nichts erhöhe das schwache Ego der Täter mehr, als wenn Fernsehen und Zeitungen über die Anschläge berichten, wenn die Polizei nach den Verbrechern sucht, wenn die Menschen aus Angst nicht mehr auf den Weihnachtsmarkt gehen. Ein neues Phänomen sei das nicht, sagt Isabella Heuser. So etwas habe es in der Geschichte der Menschheit immer gegeben. Dass wir denken, es geschähe immer häufiger, hänge damit zusammen, dass wir dank moderner Kommunikation zu jeder Zeit mit fast jedem Winkel der Erde vernetzt sind. Mit anderen Worten: Wir können Unfälle, Katastrophen, Amokläufe fast live verfolgen.

Wer dies nicht richtig einordnen und relativieren kann, ist schnell der Meinung, dass unsere Welt brutaler wird. „Subjektiv haben wir den Eindruck, dass vor allem die Jugend immer mehr verroht, aber eigentlich gibt es nur eine höhere Sensibilität in der Bevölkerung“, sagt Psychologe Herbert Scheithauer. Tatsächlich gebe es – statistisch gesehen – zwar nicht mehr Gewalttaten, verändert habe sich aber die Qualität der Gewalt. Sie sei subtiler geworden, aber keinesfalls weniger brutal. Im Gegenteil. Wo sich Gewalt gegen Unbekannte  – wie beim Steineschmeißen von der Brücke oder Blenden der Piloten – richtet, fehlt jede Empathie. Schließlich sieht man nicht, wen es trifft.

Wer Kindern Alkohol einflößt oder Gift in Schnapsflaschen mischt, der weiß, dass dies nicht gesund ist und sogar den Tod der Opfer bedeuten kann. Hier geht es um eine Art Experiment, sagt Scheithauer: Passiert etwas oder passiert nichts? Das beinhaltet einen Nervenkitzel, ähnlich dem, den noch vor Jahren Risikoverliebte beim sogenannten S-Bahn-Surfing suchten. Mit dem Unterschied, dass die sich damals meist nur selbst gefährdeten. Geblieben ist ein Name: „Sensation Seeking“ heißt das Verhalten im Psychologen-Jargon. Suche nach der optimalen Erregung. „Den Tätern ist nicht klar, welche Konsequenzen ihr Handeln hat“, sagt Scheithauer. Ihre Realität ist verzerrt, vielleicht auch durch Videospiele, in denen Erschossene wieder aufstehen und weiterleben.

Isabella Heuser beklagt, dass viele Gewalttaten zu detailliert dargestellt würden. „Das ist natürlich auch ein Dilemma für die Medien“, sagt sie: „Einerseits muss man die Menschen über einen Giftmischer auf dem Weihnachtsmarkt informieren, andererseits vergrößert man dadurch die Angst  und gibt dem Täter noch mal  einen besonderen Kick.“

Die Psychiatrie-Chefin glaubt nicht, dass die „Irren“ vor allem in Großstädten zuschlagen. „Denken sie an den Typen, der immer wieder Tierställe angezündet hat“, sagt sie. Und hat klare Vorstellungen, was man gegen Verrohung und mangelndes Mitgefühl tun sollte. Kinder müssten von klein auf soziale Kompetenz und Empathie erwerben, indem sie lernen, miteinander auszukommen, sich durchzusetzen, ohne einen anderen zu beschädigen. „Wenn das Eltern nicht leisten können oder wollen, hilft nur die Kita oder Ganztagsschule“, sagt sie. Dort müsse man auch lernen, mit Gefühlen wie Frustrationen umzugehen. Und einfach nur den alten Spruch zu befolgen: „Was du nicht willst, das man dir tut, das füg’ auch keinem andern zu.“

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