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Berlin: Witze aus Notwehr

Der Kulturhistoriker Lothar Binger hat den Humor der Berliner erforscht. Fazit: Sie können nichts dafür

Ein weiteres großes Geheimnis der Zivilisation ist gelüftet. Nämlich jenes, warum der Berliner, etwa in Gestalt von Bus-, Taxifahrern und Servicekräften, so ist, wie er ist. Die Ursachen reichen bis ins Jahr 1448 zurück – sagt zumindest der Kulturhistoriker Lothar Binger. Der ist zwar kein gebürtiger Berliner, lebt aber schon lange hier und hat nach zehn Jahren Recherche ein Buch geschrieben: „Berliner Witz zwischen Größenwahn und Resignation“ heißt es (be.bra-Verlag, 19,90 Euro). Wer nicht gleich 200 Seiten lesen will, ist mit der gleichnamigen Ausstellung im Saalbau Neukölln gut bedient.

Binger ist ein lebhafter Mann mit grauen Locken, der ohne Pausen spricht und dabei lächelnd wenig Nettes sagt. Es sind eher mildernde Umstände, die er aufzählt. Sie begannen mit dem „Berliner Unwillen“ im Jahr 1448, als die Bevölkerung gegen kurfürstliche Pläne für den Bau eines Stadtschlosses aufbegehrte. Das Volk habe den Bauplatz fluten lassen, woraufhin der Kurfürst manche Bürgerrechte beschnitt. „Seitdem ist Berlin eine besetzte Stadt“, sagt Binger und blickt über die Jahrhunderte hinweg in Richtung heute: 1514 habe ein sächsischer Stadtschreiber die bis dahin Platt sprechenden Berliner zum Hochdeutschen genötigt. Manche, die etwas auf sich hielten, hätten daraufhin ihren Namen modifiziert: Familie Rycke wurde etwa zu Familie Reiche. „Die Kurfürsten haben sich immer bessere Leute als die Berliner geholt, beispielsweise die Hugenotten.“ Später, als die Stadt bereits mit Denkmälern großer Militärs und Regenten bestückt war, habe auch noch der Kaiser hineinregiert. Die Abwehrreaktion der Berliner: Resignation und Größenwahn. Und Schlagfertigkeit als zivilisierter Ersatz für die Schlägerei. Ein Fortschritt immerhin in einer Stadt, in der sich bis heute keine Institution wie die „feine Gesellschaft“ etablieren konnte.

Apropos feine Gesellschaft: „Bist du ooch ,von‘?“, fragt ein Kind ein anderes auf einer von Zilles Hinterhof-Zeichnungen in der Ausstellung. „Jawoll“, antwortet das andere Kind, „Mutter weeß bloß nich von wem!“ Rund hundert Jahre ist das her. Knapp halb so alt ist ein Bild von Karl Schrader. Ein Mann wendet sich über die Sessellehne zu seiner Frau: „Klar lieb ich dich noch, frag doch nicht so blöd!“ So funktioniert die Berliner Schnauze im häuslichen Gebrauch. Geprägt ist sie nach Bingers Analyse von Ironie und Wortwitz. Dahinter stecke oft Gefühlsabwehr: Ein Problem tut – zumindest für den Moment – nicht mehr so weh, wenn es in Kalauern verwurstet wird. „Der Berliner hat Grund, so zu sein, wie er ist“, resümiert der Kulturgeschichtler. Er legt Wert auf die Trennung von Witz, Komik und Humor. Letzterer setze Gelassenheit voraus, die dem Berliner abgehe. Und Komik äußere sich körperlich – aber „der Berliner agiert immer mit beherrschtem Körper“. Eher liege den Berlinern der Wortwitz, dessen Brillanz zwar traditionell überschätzt sei, aber eben doch kreatives Potenzial freilege. Folglich fordert Binger auch mehr Anerkennung für Klassenclowns. Wobei er wohl auch sein eigenes Trauma aufgreift: In seinen Schulzeugnissen wurde er als „vorlaut und albern“ charakterisiert. Aber das ist eine andere Geschichte.

Die Ausstellung ist bis 4. Juni in der Galerie im Saalbau Neukölln in der Karl-Marx-Str. 141 zu sehen: Mi bis So 12 bis 18 Uhr, Eintritt frei.

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