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Die Justizschelte eines Amtsrichters: Zeuge der Anklage

Bewährungsprobe bei der Staatsanwaltschaft: Amtsrichter Robert Pragst schreibt ein Buch über seine Ausbildung in Europas größtem Kriminalgericht

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Es ist eine Begegnung, wie sie in den Sälen des Kriminalgerichts Moabit täglich vorkommt. Die beiden Männer sind, jeder auf seine Art, eher unfreiwillig in die Maschinerie des größten Kriminalgerichts Europas geraten: Auf der einen Seite steht der junge Staatsanwalt Robert Pragst, der Richter werden will, zur Ausbildung aber ein Jahr bei der Anklagebehörde in Moabit verbringen muss. Er hat sich nicht um die Stelle gerissen.

Auf der anderen Seite sitzt der Serientäter Sinan H., gegen den wegen verschiedener Raubtaten ermittelt wird, auf der Anklagebank. Ihre Geschichten entwickeln sich parallel, bis es dann irgendwann zum Showdown kommt: Der Staatsanwalt, mittlerweile kein blutiger Anfänger mehr, klagt den Räuber wegen seiner Taten an.

Robert Pragst hat das Kriminalgericht wieder verlassen. Mittlerweile arbeitet der 41-Jährige als Zivilrichter am Amtsgericht Lichtenberg. Über sein Jahr in Moabit hat er ein Buch geschrieben. „Auf Bewährung“, heißt es. Und tatsächlich gewinnt der Leser über weite Strecken des Erfahrungsberichts den Eindruck, dass der Jurist am Ende froh sein kann, den hektischen Betrieb des Justizapparats unbeschadet zu überstehen. Rund 2500 Beschäftigte arbeiten in dem Gerichtskomplex an der Turmstraße, darunter 270 Richter und rund 350 Staatsanwälte. Pragst blieb nicht die Zeit, auch nur annähernd die Hälfte seiner Kollegen persönlich kennenzulernen. Die räumliche Enge und altertümliche Ausstattung des 1906 errichteten Gebäudelabyrinths verstärkt die kafkaeske Arbeitsatmosphäre. „Der Alltag auf den langen, dunklen Fluren hat schon etwas Trostloses“, sagt Pragst. „Da kann man sich nicht nur als Angeklagter schnell verloren fühlen.“

Pragst ist Quereinsteiger im Rechtsberuf. Nach dem Abitur 1988 in Ost-Berlin lernt er zunächst Bankkaufmann, arbeitet als Immobilien-Makler, bevor er Jura studiert und an der Humboldt-Uni als Zweitbester seines Jahrgangs abschließt. Dem berufseigenen Anspruch, der Wahrheit und nichts als der Wahrheit verpflichtet zu sein, folgt Pragst auch als Buchautor. Das Geschäft der Gerechtigkeit in Moabit ist Fließbandarbeit. Rund 60 000 neue Strafverfahren landen jährlich auf den Schreibtischen der Anklagebehörde, die meisten Fälle wandern durch die Hände mehrerer Staatsanwälte. „Das ist organisatorisch gar nicht anders zu machen. An manchen Tagen finden 50 Sitzungen gleichzeitig statt. Da ist es normal, dass man die Anklagevertretung in Fällen übernimmt, mit denen man vorher kaum etwas zu tun hatte.“ Die ständige Überlastung, die fortwährende Arbeit an den Kapazitätsgrenzen, bildet ein Leitmotiv. Der junge Staatsanwalt hat gerade einige Akten abgearbeitet, als schon der nächste Stapel wie eine Welle über ihn hereinbricht.

Der Fall des Serientäters Sinan H. bildet den zweiten Strang des Buches. Dessen kriminelle Karriere führt mehrfach nach Moabit und hinaus, Freispruch und Fluchtversuch inklusive. Pragst stellt den Täter am Anfang seines Buches in einer zehnzeiligen Polizeimeldung vor, in der vom Raubüberfall auf einen kleinen Zeitungsladen in Friedrichshain berichtet wird. Ein typischer Fall, alltäglich. Anders als in den üblichen Kurznachrichten lässt Pragst aber auch die Opfer nicht außer Acht. Die Ladeninhaber Erika und Werner L. hatten sich mit dem Geschäft eine Lebensgrundlage geschaffen, sie waren nach der Maueröffnung in der Marktwirtschaft angekommen und stolz auf ihre bescheidene Existenz. All das wird durch den Raubüberfall auf einen Schlag zerstört. Den Räubern hingegen ist die Beute zu mager, sie ziehen einfach weiter zur nächsten Tat.

„Man möchte ja an das Gute im Menschen und an die heile Welt glauben“, sagt der 41-Jährige. „Doch in den Ermittlungsakten lernt man alle Stufen menschlicher Bosheit kennen.“ Pragst hat als Staatsanwalt Mitleid mit den Opfern, aber er muss schnell feststellen, dass zu viel Mitgefühl einem Staatsanwalt nicht guttut, etwas Abstumpfung dagegen nötig ist, um professionelle Distanz zum geballten Elend des kriminellen Berlins aufrecht zu erhalten.

Getragen wird Pragst, und das trägt jede Seite seines Buches, von einem Gerechtigkeitsgefühl, dass auch die Mühlen der Justiz nicht zu zermalmen vermögen. Trotz der ernüchternden Erkenntnis, dass die Strafverfolgung oft durch die Bürokratie selbst behindert wird. „Es gibt eine Unmenge von Nebentätigkeiten, Dienstanordnungen, Richtlinien und Weisungen, die Staatsanwälte von der eigentlichen Ermittlungsarbeit abhalten“, lautet seine Erfahrung. Pragst erinnert sich an das Verfahren gegen einen Internetbetrüger mit mehreren hundert Geschädigten. Als sich einer der Betrogenen nach dem Stand seines Falls erkundigt, gibt Pragst bereitwillig Auskunft – und bekommt deshalb Ärger. Die Anfrage hätte vorschriftsmäßig über die Senatsjustizverwaltung und die österreichischen Behörden und damit über viele Schreibtische hinweg vermittelt werden müssen.

Viele Schreibtische, lange Amtswege, viele Gelegenheiten für kleine Nachlässigkeiten, mögliche Fehlerquellen, die am Ende zu Justizirrtümern und Fehlurteilen führen können. Aus Sicht des Staatsanwalts Pragst sind das naturgemäß Freisprüche für Leute, die sie nicht verdient haben. Für Serientäter Sinan H. erreicht Pragst am Ende eine Haftstrafe von sechs Jahren und neun Monaten – doch möglich machte das nur die Akribie eines Polizeikommissars, der frühzeitig alle Ermittlungsunterlagen kopiert hatte. In den Originalakten fehlten nach den langen Dienstwegen entscheidende Dokumente und rissen Beweislücken, die der Verteidiger gerne genutzt hätte.

Es sei eine „harte Zeit“ gewesen, sagt Pragst. Bei Berufsanfängern sei das Kriminalgericht daher nicht beliebt. „Alle versuchen, drumherum zu kommen.“ Seine Erfahrungen aus Moabit möchte er dennoch nicht missen. Schließlich ist daraus ein interessantes Buch geworden.

Robert Pragst: Auf Bewährung. Mein Jahr als Staatsanwalt, dtv premium, 232 Seiten, 14,90 Euro

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