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Ein Teufelskreis der Ausbeutung.

© Sven Doering

Zwangsprostitution in Berlin: In den Fängen der Menschenhändler

Sex für 15 Euro, bis zu 20 Mal am Tag: Immer mehr Nigerianerinnen werden zur Prostitution gezwungen. Eine Betroffene erzählt ihre Geschichte.

Anfangs bekommt Esosa 30 Euro für ein Geschäft. Esosas Geschäft ist Sex. Von den 30 Euro darf sie 15 behalten. Das ist ihr das Überleben wert. Das sagt sie sich selbst jeden Tag, das sagt sie Gott, wenn sie betet: „Verzeih mir, Herr, ich mache das nur, damit ich überleben kann, vergib mir.“ Gehen kann sie ohnehin nicht. Nur wenn sie oft genug mit einem Fremden schlafen würde, wäre sie endlich frei. Hofft sie. Frei von den Menschen um sie herum und von dem Fluch in ihrem Kopf, den sie Juju nennt. „Der Fluch lässt dich alles machen“, sagt Esosa, „weil er dich sonst umbringt.“ Also fügt sich Esosa. Sex für 15 Euro, bis zu 20 Mal am Tag.

61 nigerianische Opfer von Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung führt das aktuelle Lagebild Menschenhandel des Bundeskriminalamtes (BKA). 2017 waren es noch 39, ein Jahr davor 25. Damit ist die Zahl nigerianischer Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution in Deutschland ähnlich hoch wie bei bulgarischen oder rumänischen Betroffenen. Das BKA spricht von organisierter Kriminalität, die nigerianischen Menschenhändler hätten einen hohen Grad an krimineller Energie.

Anders als andere Netzwerke sind nigerianische Menschenhändlerringe äußerst kleinteilig organisiert und spannen ihr Netzwerk von Nigeria über Afrika durch Europa. Fliegt ein Mitglied auf, ist schnell ein neues installiert. Europol geht von mehreren Hundert nigerianischen Menschenhändlerringen aus, die die Frauen oft an den gleichen Orten und meist auf die gleiche Weise ausbeuten.

Zentrale Figuren in diesem in kleinen Zellen organisierten System sind sogenannte Madames. Frauen, oft selbst früher zur Prostitution gezwungen, organisieren die Anwerbung von jungen Nigerianerinnen, ihren Weg nach Europa und ihre Ausbeutung dort.

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Die Fenster des kleinen Ladens im Berliner Bezirk Tempelhof-Schöneberg waren mit Folie beklebt, sie zeigten Silhouetten von Frauen in verschiedenen Posen. Darüber eine schwarz-rote Leuchtreklame. Es war Sommer in Berlin. Unten masturbierten Männer zu Pornos, die auf der großen Leinwand flimmerten. Oben wartete Esosa auf alle, die mehr wollten.

„Er war nett“, sagt Esosa über den Zuhälter am Ende des Flurs, dem sie die Hälfte ihres Gehalts geben musste. „Wenn ich zu spät kam und schon Männer auf mich warteten, sagte er, ‚nimm sie mit in dein Zimmer‘, und bestrafte mich nicht.“

Als der Zuhälter Angst bekam, dass sein Erotikkino mitten in Berlin kontrolliert wird, brachte er Esosa zu einem Bekannten. „Ich weiß nicht, ob der Ort, an den er mich brachte, groß oder klein war“, sagt Esosa und spricht von einer Kleinstadt irgendwo in Deutschland. „Wir haben das Haus nie verlassen. Sie haben uns über das Internet angeboten.“

Aus Nigeria nach Berlin

Esosa stammt aus der Region Benin-Stadt, der Hauptstadt des südnigerianischen Bundesstaates Ebo. Etwa 90 Prozent aller afrikanischen Frauen, die in Europa sexuell ausgebeutet werden, stammen aus diesem Gebiet. Wie so viele dort ist Esosas Familie arm, sie hat vier Geschwister, ihre Mutter hat mal einen Mann, mal ist sie alleinerziehend.

Früh verlässt Esosa die Schule und arbeitet, weil jeder verdiente nigerianische Dollar der Familie mehr half als Bildung. Als sie über Bekannte das Angebot annimmt, bei einer Frau als Haushaltshilfe zu arbeiten, ändert sich ihr Leben grundlegend. „Wenn du deiner Familie wirklich helfen willst, kann ich dich nach Europa bringen“, sagt die Frau, die Esosa Madame nennt, „dort kannst du richtiges Geld verdienen.“ Esosa weiß, dass sich viele der Frauen, die weggehen, prostituieren – ihre Mutter weiß es auch. „Ich möchte nicht mehr leiden, Mama“, sagt sie ihrer Mutter, „ich möchte einfach, dass es uns besser geht. Ich möchte nach Europa und arbeiten.“

Esosa heißt anders und lebt, seit sie von der Berliner Polizei aufgegriffen wurde, in einer Schutzwohnung. Wenn sie von ihrem Leben erzählt, dann sagt sie Sätze wie: „Ich würde nicht sagen, dass das Leben schlecht zu mir war. Aber wirklich gut war es auch nicht.“ Dann erzählt die 26-Jährige mit sanfter, warmer Stimme – und es klingt ein bisschen, als wäre sie selbst gar nie dabei gewesen.

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Zwei Tage bevor sie in Benin-Stadt in den Bus steigt, schickt die Madame sie zu einem Priester. Er spricht ihr Worte vor, die sie wiederholen soll. Er lässt sie sagen: „Wenn ich weglaufe, werde ich sterben. Wenn ich mit der Polizei spreche, wird der Zauber mich töten. Wenn ich meine Schulden nicht zurückzahle, wird der Schwur mich und meine ganze Familie finden und bestrafen.“

Der Glaube an die Macht des Juju lässt die Opfer schweigen, lässt sie die Namen der Täter und die Orte der Ausbeutung vergessen, jede Arbeit annehmen, um den Schwur zu erfüllen. Um ihn zu vollenden, fordert der Priester von Esosa einen Teil ihrer Schamhaare, Hühnchenstücke und Wodka als Pfand. Die Schamhaare behält der Priester in seinem Schrein, um immer Kontrolle über Esosa zu haben. Das Huhn und der Wodka sind sein Abendessen.

Zwei Tage später sitzt Esosa in einem Bus an das knapp 5 000 Kilometer entfernte Mittelmeer, von Benin-Stadt über Kano, Agadez, durch die Wüste über Sabha nach Tripolis. Dort steigt sie mit 150 anderen Menschen in ein Schlauchboot, es fährt nach Lampedusa. Das alles soll 30 000 Euro gekostet haben. Schulden, die Esosa in Berlin abarbeiten soll.

Menschenhandel und Ausbeutung bleiben häufig unentdeckt

156 Ermittlungsverfahren führte die Berliner Polizei 2018 zu Menschenhandel, die meisten in Zusammenhang mit sexueller Ausbeutung. Doch polizeiliche Kriminalstatistiken können immer nur das sogenannte Hellfeld abbilden. Menschenhandel und Ausbeutung spielen sich jedoch meist unerkannt in weiten Teilen unseres Alltags ab: Opfer von Menschenhandel und Ausbeutung lackieren Nägel, stechen Spargel, putzen Hotelzimmer. Sie bauen Häuser, sie pflegen unsere Alten.

„Gemein haben die sehr unterschiedlichen Fälle, dass die Täter eine verletzliche Situation der Opfer ausnutzen“, sagt Petra Follmer-Otto, die seit Jahren am Deutschen Institut für Menschenrechte in Kreuzberg forscht. „Menschen, die sich zur Migration entscheiden, verlieren an einem bestimmten Punkt die Kontrolle über ihren Körper, über den Einsatz ihrer Arbeitskraft oder auch über ihre persönliche Freiheit.“ Sei es durch Gewalt, durch das Abnehmen von Papieren oder – wie in Esosas Fall – durch Schuldknechtschaft.

Es bleibt oft nicht bei den 30 000 Euro. Die Summe kann durch Kosten für Unterbringung, Essen oder angeblichen Schutz vor Behörden beliebig erweitert werden. Betroffene berichten von Summen bis zu 100 000 Euro. Ein unüberwindbarer Berg an Schulden. „Für verschwindend wenig Geld und unter schlechten Bedingungen zu arbeiten oder sich zu prostituieren scheint dann immer noch realer als die Möglichkeit des Ausstiegs“, sagt Follmer-Otto.

Ans Aussteigen dachte auch Esosa nicht, stattdessen sagt sie: „Das sind gute Menschen“, und meint das nigerianische Ehepaar, bei dem sie in Berlin für 700 Euro auf einer Matratze schlief. Meint damit den Mann, der seinen Bruder schickte, um sie von Italien nach Berlin zu schmuggeln. Die Frau, die sie zur Prostitution schickte, die das ganze Geld, das Esosa verdiente und ihrer Mutter schicken wollte, selbst behielt. Das Ehepaar, das in zweiter Instanz mit Freiheitsstrafen von eineinhalb Jahren wegen Zuhälterei und Menschenhandel in Berlin verurteilt wurde.

Heute glaubt Esosa nicht mehr an den Fluch. Der repräsentative König von Benin erklärt im Frühjahr 2018 jeden Juju-Zauber zu Menschenhandel für ungültig. Für viele Opfer kommt das einer Erlösung gleich. In zwei Prozessen sagt Esosa in Berlin gegen das Ehepaar und Schleuser aus. Zeit vor Gericht, die es ihr erlaubt, bis jetzt in Deutschland zu wohnen. Mit Unterstützung einer Beratungsstelle für Betroffene von Menschenhandel beantragte sie ein permanentes Bleiberecht aus humanitären Gründen. Doch ob Esosa nach den Verfahren bleiben darf, ist längst noch nicht klar.

„Seit 2018 ist in Deutschland ein signifikanter Rückgang im Gebrauch des Selbsteintrittsrechts zu beobachten“, sagt Sophia Wirsching, Geschäftsführerin des bundesweiten Koordinierungskreises für Menschenhandel. Jetzt würden Betroffene, die in Deutschland Schutz suchen, gemäß der Dublin-Verordnung in das Europäische Ersteintrittsland abgeschoben. Dorthin, wo in Italien und Spanien die sexuelle Ausbeutung für die meisten Betroffenen beginnt. Wirsching sagt: „Es ist zu befürchten, dass Betroffene dort erneut in die Fänge der Menschenhändler geraten.“ Womit der Teufelskreis der Ausbeutung von vorn beginnt.

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