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Berlin: Zweisprachig: Den aufgeweckten Jungen aus der Sackgasse geholt

Sie begann nicht eben glücklich, die Schullaufbahn des erfolgreichen Elekroingenieurs und bündnisgrünen Abgeordneten Özcan Mutlu: Er hatte keine Zuckertüte. Nicht mal eine leere, wie ein paar andere türkische Kinder seiner Klasse, sondern rein gar nichts, denn seine frisch eingewanderten Eltern hatten keine Ahnung von dem hiesigen Brauch.

Sie begann nicht eben glücklich, die Schullaufbahn des erfolgreichen Elekroingenieurs und bündnisgrünen Abgeordneten Özcan Mutlu: Er hatte keine Zuckertüte. Nicht mal eine leere, wie ein paar andere türkische Kinder seiner Klasse, sondern rein gar nichts, denn seine frisch eingewanderten Eltern hatten keine Ahnung von dem hiesigen Brauch. Und es ging für ihn an der Kreuzberger Nürtingen-Grundschule auch nicht gerade entspannt weiter: Mutlu erlebte die Zeiten des Schichtunterrichts, weil alle Kinder nicht gleichzeitig ins Schulgebäude passten. Mal mussten sich sogar zwei Kinder einen Stuhl teilen, mal die ganze Klasse aus Raumnot in den Hof ausweichen. So war das damals in SO 36 zu den Spitzenzeiten der türkischen Einwanderung.

Mutlus damalige Lehrerin, Karin Birnkott, hat das alles von Anfang an miterlebt, denn sie war schon 1972, vier Jahre vor ihm, an die "Nürtingen" gekommen. Sie hatte sich bewusst für diese Schule entschieden, weil sie zugewanderte Kinder unterrichten wollte. "Ausländische Kinder an inländischen Schulen" hieß die Arbeit, die sie mit fünf Kommilitone bereits an der Pädagogischen Hochschule geschrieben hatte. Ziemlich schnell war ihr klar, dass alle Integrationsmmodelle einen entscheidenden Haken hatten: "Sie waren nicht wirklich auf Integration ausgerichtet, sondern auf vorübergehende Eingliederung, weil man im Grunde die Rückkehr dieser Menschen wollte."

Zu diesem "Nicht-(wahr-)haben-wollen" standen schon damals die Tatsachen in krassem Widerspruch. Die Einwanderung nahm stetig zu, vor allem als 1973 der Anwerbestopp für Gastarbeiter angekündigt worden war: In Torschlusspanik machten sich viele Männer, die noch mit dem Schritt nach Deutschland gezögert hatten, auf den Weg. Dieser Strom schwoll 1974 weiter dadurch an, dass Kindergeld nur noch für Kinder im Inland gezahlt wurde. Die Schulen waren blitzschnell überbelegt, hatten aber weder Material noch Lehrer für die besonderen Belange der türkischen Kinder.

Birnkott und Mutlu, der heute auch bildungspolitischer Sprecher der Bündnisgrünen ist, erinnern sich an diese Zeit als "höchst dramatisch". Damals seien türkische Lehrer sogar aus den Fabriken geholt und "durchs Goethe-Institut geschleust worden", um überhaupt irgendeine Art von Unterricht bieten zu können. Wenn Mutlu morgens zur Schule ging, dann waren mit ihm "hunderte von türkischen Kids" unterwegs.

"Die Schulen haben immer nur das Elend verwaltet", sagt Karin Birnkott im Rückblick. Speziell die "Nürtingen", denn in ihrer Umgebung gab es jede Menge billigen Wohnraums für die türkischen Familien. Mit der türkischen Kollegin Leyla Kubat zusammen unterrichtete sie damals 40 Kinder - eine "reine Türkenklasse" und mittendrin auch Özcan Mutlu.

Die Ergebnisse waren mager. In den so genannten Vorbereitungsklassen sollten die Zuwandererkinder nur zwei Jahre sitzen und dann zu den Regelklassen stoßen. Doch davon konnte keine Rede sein: "Es dauerte sechs Jahre", sagt Birnkott. Man ließ Kinder Klassen wiederholen, "um sie überhaupt oberschulreif zu kriegen". Schließlich sei ihr klar geworden, "dass das pädagogische Material und der ganze Ansatz nicht stimmte, denn die Kinder waren nach vier oder fünf Jahren noch immer Analphabeten", die oftmals auf der Sonderschulen landeten.

Für Mutlu sah es allerdings besser aus: Da er einen aufgeweckten Eindruck machte, wurde er auf Birnkotts Betreiben hin mit zwei weiteren türkischen Kindern Ende der vierten Klasse aus der "Nürtingen" herausgeholt und auf die Zille-Grundschule geschickt, in der durch einen höheren Anteil deutscher Kinder an Integration zu denken war. So kam er mit ganz guten Deutschkenntnissen auf die Hauptschule, erhielt dort den Realschulabschluss, ließ sich an der TU zum Kommunikationselektroniker ausbilden, machte auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur nach und studierte dann Elektrotechnik.

Natürlich ist Mutlu seiner ehemaligen Lehrerin dankbar dafür, dass sie ihn damals aus der Sackgasse herausholte. Dass er bis heute Kontakt zu ihr hält, liegt aber wohl daran, dass sie sich seit damals für die zweisprachige Alphabetisierung und Erziehung in Berlin stark gemacht hat. Es war nämlich Ende der siebziger Jahre keineswegs selbstverständlich, dass man sich für dieses Modell einsetzte. Birnkott und viele Kollegen waren aber davon überzeugt und setzten durch, dass es 1981 an der "Nürtingen" eingeführt wurde. Die hier gemachten Erfahrungen mündeten schließlich im Schulversuch in fünf Bezirken und in einem Lehrbuch, das Karin Birnkott mit Kolleginnen verfasste.

Zwar kam für Mutlu dieses Modell zu spät, aber nicht für seinen jüngeren Bruder. Dass dieser - zweisprachig alphabetisiert - auf direktem Weg das Abitur schaffte und jetzt Betriebswirtschaftslehre studiert, ist für den Abgeordneten eines von vielen Beispielen dafür, dass das Modell funktioniert. Und deshalb hat er auch mit durchgesetzt, dass eine türkische Europaschule entstand, die jetzt sein Sohn besucht.

Es war ein Schock für Karin Birnkott und Mutlu und alle anderen Verfechter der zweisprachigen Alphabetisierung, dass - wie berichtet - ausgerechnet die "Nürtingen" diesem Modell den Rücken kehrte: Frustriert von den schlechten Rahmenbedingungen und von der mangelnden Unterstützung durch die Eltern hatte sich das Kollegium Ende des vergangenen Schuljahrs mit einer knappen 17:15-Mehrheit gegen eine Fortsetzung des Modells ausgesprochen, so dass von ehemals 19 jetzt lediglich 7 Schulen zweisprachig alphabetisieren. Laut Schulverwaltung nehmen nur rund 4,5 Prozent der türkischen Schüler überhaupt noch an der zweisprachigen Erziehung teil. Nicht alle Schulen haben aber aus den gleichen Gründen wie die "Nürtingen" aufgehört. An der Rosegger-Grundschule heißt es etwa, man werde weitermachen, sobald sich wieder mehr türkische Kinder anmeldeten. Zurzeit gebe es in den Klassen vor allem bosnisch- und arabisch-stämmige Schüler, für die eine türkische Alphabetisierung keinen Sinn habe. Die Schule bleibt aber die Antwort schuldig, warum sich so viele türkische Familien aus ihrer Umgebung für Grundschulen ohne Türkisch-Angebot entscheiden.

Birnkott und Mutlu sehen im mangelnden Interesse der Familien aber nicht den Hauptgrund für die geringe Rolle, die das Reformmodell heute spielt. "Das Projekt wurde immer wieder torpediert", sagt Mutlu. Die Regelung, wonach die Schulen Jahr für Jahr aufs Neue den Gang durch die Gremien antreten müssen, um mit der Zweisprachigkeit weitermachen zu können, habe der Sache ebenso geschadet wie "die Kurzatmigkeit der Politik", die auch Birnkott beklagt.

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