zum Hauptinhalt
„Das tapfere Schneiderlein“ im Atze Musiktheater

© Jörg Metzner

„Das tapfere Schneiderlein“ im Atze Musiktheater: Ich habe diese Fliegen nicht getötet!

Mit dem Stück „Das tapfere Schneiderlein“ schlägt das Atze Musiktheater neue Wege ein: Statt der Musik ist hier die Schauspielerei das tragende Element.

Für Märchenverhältnisse hat „Das tapfere Schneiderlein“ der Brüder Grimm eine ziemlich bedenkliche Moral. Schließlich lehrt die Geschichte, dass dummdreiste Prahlerei belohnt wird. Noch dazu mit einer Königstochter und einem halben Reich. Denn, zur Erinnerung: Der „Held“ dieser Erzählung, das titelgebende Schneiderlein, erschlägt sieben Fliegen, die sich über sein Mußbrot hermachen wollen – und ist darauf so stolz, dass er sich „siebene auf einen Streich“ auf den Gürtel stickt.

Aus unerfindlichen Gründen denken fortan alle möglichen Leute, dass damit getötete Menschen gemeint seien, und zollen dem mutmaßlichen Massenmörder einen Heidenrespekt. Der Aufschneider lässt das gerne so stehen und schlawinert sich mit allerlei Täuschungsmanövern (zum Schaden von arglosen Riesen und Wildschweinen) bis auf den Thron. Skandalös.  

Fliegen im Bauch

In Zeiten, in denen so manches auf den Prüfstand kommt, was die Jugend pädagogisch formen soll, ist die Schneiderlein-Saga also dringend revisionsbedürftig. Und dankenswerter Weise übernimmt das Atze Musiktheater diesen Job.

Anfangs deutet noch alles auf eine klassische Märchenstunde hin: Im Studio des Weddinger Kinder- und Jugendtheaters haben vier Musiker:innen (Sonja Engelhardt, Özgür Ersoy, Antje Palowski und Katja Reinbold) auf einer mit Goldstoff ausgeschlagenen, von ebenso güldenen Vorhängen gesäumten Podesterie Platz genommen (Bühne und Kostüme: Frida Grubba), eine Erzählerin (Evelyne Cannard) tritt zur Ouvertüre mit dem Textbuch auf und beginnt, die Grimms im Original vorzutragen.

Allerdings wird sie schon an der richtungsweisenden Fliegen-Stelle unterbrochen – vom Schneiderlein nämlich, das in Gestalt eines Passanten mit Wollmütze, Regenjacke und Einkaufsnetz an den Seitenausgang zur Luxemburgischen Straße hämmert und Einlass begehrt.

Gerechtigkeit für die Riesen

Der von Justus Carriére verkörperte Mann ist gekommen, um ein paar Dinge gerade zu rücken: „Stimmt so nicht, es war so nicht! Ich habe diese Fliegen nicht getötet!“. Sondern nur verschluckt. Seitdem schwirrten sie ihm im Bauch herum (versinnbildlicht durch sieben auf den Wams genähte Knöpfe) und seien gute Ratgeber.

Nicht die einzige Passage, die der Schneider zu monieren hat. In seiner Lesart der eigenen Biografie werden auch keine Riesen angestachelt, sich gegenseitig mit ausgerissenen Stämmen zu erschlagen („Es gibt sowieso schon zu wenig Bäume!“) – was bei der Premiere einen beherzten Protestschrei aus Kindermund zur Folge hat. Tja. Auch Minderjährige können gnadenlos konservativ sein.

Die Regisseurin, Texterin und musikalische Leiterin Sinem Altan – die dem Atze Musiktheater schon lange verbunden ist und schöne Produktionen wie „Beethoven“ oder „Albirea – Im Land der drei großen Geister“ geprägt hat – zielt mit ihrem „Tapferen Schneiderlein“ freilich nicht nur auf eine pädagogisch korrekte Neudeutung (inklusive der Emanzipation der Königstochter). Das knapp einstündige Märchenkonzert ist vor allem auch musikalisch ein Vergnügen.

Das Bassklarinetten-Schwein

Nach dem guten alten „Peter und der Wolf“-Prinzip lässt Altan die Instrumente Rollen spielen. Verschieden Flöten beleben Zaunkönig, Taube und Schwalbe, der Schellenkranz beschwört höfische Atmosphäre, die Bassklarinette wird zum Wildschwein – das hier natürlich nicht sinnlos durch den Wald wütet, sondern von den Menschen verletzt worden ist.

Die fein akzentuierte, von den Musiker:innen gefühlvoll performte Komposition trägt jedenfalls die Erzählung, die auf einem bedingungslos wahrhaftigen Schlussakkord endet: „Ich bin kein Held. Ich bin ein Schneiderlein“.   

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false