zum Hauptinhalt
Der European Film Market im Martin-Gropius-Bau.

© imago/Stefan Zeitz

Drehen im Krieg: Wie geht es der ukrainischen Filmindustrie?

Ukrainische Filmschaffende müssen den Spagat zwischen Kriegsalltag und Festivaltrubel meistern. Ein Besuch auf dem European Film Market der Berlinale

Babylonisches Stimmengewirr. Ein Filmstand am anderen, Menschen mit Ausweiskärtchen am Hals schieben sich aneinander vorbei. Der Europäische Filmmarkt im Martin-Gropius-Bau ist in vollem Gange. Mit provisorisch eingeschobenen Wänden versuchen die Ausstellenden für Privatsphäre zu sorgen. Auf den Tresen liegen Filmbroschüren, daneben Schalen mit Snacks. Das ist auch beim Stand der Ukraine nicht anders.

„Pray for Ukraine“ steht auf den blau-gelben Süßigkeiten, die Alina Shulha und ihre Kolleg:innen der staatlichen Filmagentur aus Kiew mitgebracht haben. Zum Panorama-Beitrag „Do You Love Me?“ gibt es sogar eine spezielle Limonade. Inmitten des Gewimmels halten einige Markt-Besucher:innen inne. „Manche kommen vorbei und sagen: I stand with Ukraine“, erklärt Shulha. „Andere wollen ihren Beitrag leisten, indem sie helfen, die unfertigen Projekte abzuschließen.“ Darum geht es am Stand: ukrainische Filmschaffende mit Investor:innen und Verleihfirmen zusammenzubringen.

Auch Olga Beskhmelnytsina ist auf der Suche. Als Produzentin will sie Geldquellen finden, um ihr aktuelles Projekt zu realisieren: eine Doku über Blinde vor dem Hintergrund des Krieges. Doch an diesem Tag ist sie in einer Doppelfunktion zum Interview auf dem Filmmarkt gekommen: Vor dreieinhalb Wochen wurde sie zur Aufsichtsratsvorsitzenden der Ukrainischen Filmakademie gewählt.

Die schlanke, hochgewachsene 37-Jährige strahlt Entschlossenheit aus. Sie will dazu beitragen, dass die ukrainische Filmindustrie am Leben bleibt. Normalerweise müssen Filmschaffende für internationale Co-Produktionen Mittel aus dem eigenen Land mitbringen. Doch die gibt es nicht mehr. „Alle Gelder innerhalb der Ukraine werden selbstverständlich ins Militär gesteckt“, erklärt Beskhmelnytsina.

Auf der anderen Seite war das internationale Interesse an ukrainischen Filmen zuletzt so hoch wie nie. Auch Förderprogramme für die dortige Filmindustrie wurden aufgelegt, aktuell von einem Verbund 13 europäischer Staaten wie Deutschland. Aus Sicht von Beskhmelnytsina wiegt das die Einbußen nicht auf. Sie hofft, dass am Beispiel der Ukraine eine neue Struktur der Filmförderung entwickelt wird: ein ständiger Notfall-Fonds für die Produzent:innen aus Ländern, die mit „unvorhersehbaren Umständen“ wie einem Krieg oder einer Pandemie zu kämpfen haben.

Als der russische Angriff vor einem Jahr begann, gingen auf allen Sets in der Ukraine die Scheinwerfer aus. Nach einigen Monaten liefen etliche Produktionen wieder an – unter abenteuerlichen Bedingungen. „Es kann sein, dass wir in Kiew einen Tag lang keinen Strom haben, und wenn die Sirenen losheulen, müssen wir in einen Luftschutzkeller“, berichtet Beskhmelnytsina. Für einen Dreh unkalkulierbare Risiken. Gleichzeitig bekomme man keinerlei Versicherung.

Geldsuche für eine Komödie über geflüchtete Ukrainer

Da fällt es schwer, in die Zukunft zu schauen. Bei fiktionalen Filmen müsse man aber zwei bis drei Jahre im Voraus planen. Aber wenn die Produzentin nach Terminen gefragt werde, könne sie nichts mit Gewissheit zusagen. „Ich weiß ja nicht mal, ob ich am nächsten Tag noch am Leben sein werde“, sagt Beskhmelnytsina, während um sie herum der Trubel des Filmmarktes weitertobt.

Hinter ihr an den Wänden des Ukraine-Standes hängen die Poster der Produktionen, die im Programm laufen. Auch das von „Do You Love Me?“, dem Film mit der eigenen Limo. Regisseurin Tonia Noyabrova hat darin Erfahrungen aus ihrer Jugend verarbeitet: die Trennung der Eltern, den Kollaps der Sowjetunion.

Regisseurin Tonia Noyabrova kommt aus Kiew und wohnt derzeit in Warschau.

© Berlinale

Den Dreh konnten Noyabrova und ihr Team gerade noch zu Ende bringen – vier Tage vor Beginn des Krieges. „Das war ein totaler Schock für uns“, sagt sie bei einer Videokonferenz kurz vor ihrer Abreise nach Berlin. Noyabrova ist in Kiew geboren. Noch immer hat sie dort eine Wohnung, doch der Krieg trieb sie fort. Vorübergehend.

Sie wohne momentan, wo ihr Koffer gerade stehe. Aktuell in Warschau. Dort schreibt sie an ihrem neuen Projekt, für das sie auf der Berlinale ebenfalls nach Geldern sucht. Es soll eine Komödie über ukrainische Geflüchtete werden. Das Setting: Westeuropa. „Ein europäischer Film mit ukrainischen Wurzeln“, sagt Noyabrova und lacht. Man müsse von seiner Idee besessen sein, nur dann werde sich jemand anderes in sie verlieben, sagt sie.

Vor zwei Wochen war sie zuletzt in Kiew – um das Outfit für die „Do You Love Me?“-Premiere rauszusuchen. „Dann ging der Fliegeralarm los, und ich musste in einen Luftschutzbunker“, erzählt die Regisseurin. Da saß sie nun im Keller und überlegte, welche Jacke sie mit welchem Kleid kombinieren wird. Wieder lacht sie. „Ich lebe mittendrin im Absurden.“

Aber gibt es angesichts all des echten Horrors überhaupt noch Platz für Filme? Tonia Noyabrova ist sich sicher: Gerade jetzt müssen Ukrainer:innen weiter drehen. „Wir können unser Land mit unseren Stimmen und unserer Kultur verteidigen“, sagt sie. Ein Kampf, der auch in den Kinosälen des Festivals ausgefochten wird. Ja, selbst im geschäftigen Treiben des Europäischen Filmmarktes.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false