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© Tagesspiegel / European Focus

European Focus #8: Lichtblicke in der Ukraine

+++ Wie im (komplizierten) Märchen +++ 500.000 +++ „Ich bleibe zu Hause – bis zum Sieg“ +++ Essengehen trotz Stromausfall +++ Gefühl der Einigkeit +++

Von
  • Anna Myroniuk
  • Mascha Schartowska
  • Anton Semischenko
  • Anita Karwowska
  • Léa Masseguin

Hallo aus Kiew,

Während ich hier schreibe (am Dienstag), wird die Ukraine erneut mit Raketen angegriffen – und das stärker als sonst. Gemeinsam mit unseren Kolleginnen und Kollegen vor Ort, die sich jetzt alle in Schutzräumen oder zumindest an den sichersten Orten in ihren Wohnungen befinden, verfolgen wir die Nachrichten. Es gibt Live-Updates über Stromausfälle in den großen ukrainischen Städten: Kiew, Charkiw, Lwiw...

„Aber weißt du, was meine Mutter mich gerade gefragt hat?“, schrieb mir gerade ein Kollege aus Kiew. „Sie wollte wissen, wie lange man einen Camembert im Ofen backen muss.“

Wir alle wissen, dass dieser Winter nicht einfach wird. Vielleicht werden die russischen Angriffe unser Leben hier unerträglich machen, und einige der Menschen in meinen Chats werden möglicherweise bald von sichereren Orten aus schreiben müssen. Vielleicht wird es dann noch mehr Geschichten wie die in dieser Newsletter-Ausgabe geben: Geschichten wie die von Olga aus Deutschland über die schwierige Integration in Westeuropa, oder wie die von Daria aus Frankreich über die Sehnsucht nach Rückkehr.

Die Leute in meinen Chats haben jedoch alle nicht vor, die Ukraine zu verlassen, auch jetzt nicht. Ganz im Gegenteil: Millionen Menschen im Land versorgen sich aktuell mit Holz, Kohle, Dieselgeneratoren, Powerbanks. Alles, was uns helfen kann, den Lebensstil aufrechtzuerhalten, den wir gerade verteidigen – gebackener Camembert inklusive.

Anton Semischenko, dieswöchiger Chefredakteur

Wie im (komplizierten) Märchen

Das Dorf, in dem unsere Autorin nun mit ihrer Familie lebt, wurde im 13. Jahrhundert erstmals urkundlich erwähnt. Auch heute wirkt es an vielen Orten wie direkt aus dem Mittelalter in die Gegenwart verfrachtet.

© Foto: privat/Von Bodow CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=94009592

„Man lebt hier wie im Märchen,“ sagte kürzlich eine Nachbarin in dem kleinen Dorf in Deutschland, in das ich im Frühling aus der Ukraine geflohen war. Gute Aussicht und schöne Landschaften reichen aber nicht aus, um jemanden zu beruhigen, der unter ständigem Stress steht.

Das Haus, in dem ich aktuell lebe, ist vermutlich besser ausgestattet als meine Wohnung in Kiew. Das ganze Dorf unterstützte mich; es wurden Küchenutensilien, Möbel und Kleidung gesammelt. Als die Menschen hier mitbekamen, dass ich gerne Kaffee trinke, wurde umgehend eine Maschine organisiert. Ich hatte schnell alles, was ich brauchte – zumindest fast.

Meine Integration verlief dennoch schleppend. Ich wachte täglich gegen 4 Uhr morgens auf, fragte bei meinen Freunden und Verwandten in Kiew nach, ob alles in Ordnung ist, und schlief dann bis 9 Uhr weiter, bevor ich mit der Arbeit begann. Ich hatte zwar einen stabilen Internetzugang und brauchte mich nicht in einem feuchten Keller vor Bomben zu verstecken. Doch meine innere Gefühlswelt änderte sich schnell. Die Diskrepanz zwischen den Fotos aus der Ukraine und dem schönen Ausblick aus meinem Fenster ließen mich nicht schlafen.

Dies war natürlich die erste Phase – die Ablehnung einer neuen Realität, verbunden mit einer ungewissen Zukunft. Nachdem ich die anfängliche Angst überwunden hatte, Deutsch zu sprechen, unterhielt ich mich immer mehr mit den Einheimischen. Ich begann besser zu verstehen, wie diese Menschen leben, und es wurde einfacher, Klischees und Vorurteile zu überwinden.

Deutschland ist nicht nur ein Land mit einem starken Sozialsystem oder schlichtweg ein Ort, an dem absolut gar nichts die Menschen von der Planung ihres nächsten Wochenendvergnügens ablenken könnte (so manche Klischees). Tatsächlich ist Deutschland ein sehr vielfältiger Ort mit seinen eigenen Problemen und Brüchen, Regeln und Traditionen.

Ich habe die neuen Regeln meines Lebens akzeptiert und viele Barrieren einreißen können: sprachliche, emotionale, bürokratische. Offenheit, Dankbarkeit gegenüber den Menschen hier und Tatkraft haben dazu beigetragen, dass alles nahezu reibungslos ablief.

Dennoch: jede unserer individuellen Geschichten ist viel komplizierter und tiefgründiger als einfach nur ein „Märchen“, das wir im Leben der anderen oder sie in unserem sehen.

Olga Konsevych ist Journalistin aus der Ukraine. Sie schreibt für den Tagesspiegel.

Zahl der Woche: 500.000

Zahl der Woche

© Karolina Uskakowitsch, European Focus

In Polen wird erwartet, dass in den kommenden Monaten 500.000 Menschen aus der Ukraine eintreffen werden, die vor dem Winter, dem zunehmenden russischen Terror und dem fehlenden Zugang zu Wasser, Strom und Heizung fliehen.

Bereits jetzt gibt es mehr als eine Million ukrainische Geflüchtete in Polen. Hilfsorganisationen gehen davon aus, dass vor allem die Neuankömmlinge durch den Krieg traumatisiert sein werden. Sie zu ernähren könnte ebenfalls eine Herausforderung sein. Derzeit sind 80.000 Geflüchtete in Notunterkünften untergebracht und viele weitere leben in überfüllten Wohnräumen.

In den ersten Wochen des Krieges hat die polnische Gesellschaft die Geflüchteten sehr stark unterstützt. Diese Solidarität könnte erneut vonnöten sein: Migrationsexperten gehen davon aus, dass die aktuellen Vorbereitungen des polnischen Staats unzureichend sind.

Anita Karwowska ist Journalistin bei der Gazeta Wyborcza. Sie arbeitet zu sozialen Themen, Frauenrechten und Flucht.

„Ich bleibe zu Hause – bis zum Sieg“

Daria im Zug am polnisch-ukrainischen Grenzübergang.

© Foto: Adrienne Surprenant

Daria erinnert sich an die Nacht des 24. Februar noch immer, als wäre sie gestern gewesen. Als die Sirenen zum ersten Mal ertönten, dachte die 29-jährige Filmemacherin aus Kiew zunächst, es handele sich um die Alarmanlage eines Autos. Dann bekam sie eine Nachricht von ihrer Mutter. „Es geht los,“ schrieb diese. Nach den ersten Explosionen suchte Daria Zuflucht in einem Schutzraum. „Ich dachte, ich würde vielleicht zwanzig Minuten dort bleiben. Doch ich konnte zwei Wochen lang nicht nach draußen gehen,“ erzählt sie.

Am 18. März verließ Daria dann Kiew mit einer kleinen Tasche – „wie ein Flüchtling“, sagt sie. Sie hatte fünf Jahre lang in Paris Film studiert und schloss sich nun tausenden Menschen aus der Ukraine an, die in der französischen Hauptstadt Zuflucht suchten.

In den ersten Tagen gelang es ihr, sich ein wenig auszuruhen. Doch auch in Paris wirkte etwas falsch: „Mir fiel es schwer, diese glücklichen Menschen hier zu sehen, während in meinem Land Krieg herrscht.“ Daria nutzte viele Möglichkeiten, um die Franzosen über die Lage in der Ukraine zu informieren. Sie ging nie aus dem Haus, ohne eine ukrainische Flagge um die Schultern zu tragen. „Einmal habe ich die Atmosphäre von Kriegsküchen nachgestellt [um Geld für die Unterstützung der ukrainischen Verteidigung zu sammeln].“ Gemeinsam habe man 1.000 Mahlzeiten für die Einheimischen zubereitet, aber nur 50 davon verkauft. „Die Franzosen verstehen nicht, dass die Ukrainer auch für den Schutz des restlichen Europas kämpfen,“ so Daria.

Am 19. Mai entschied sie sich, trotz Lebensgefahr zurückzukehren. Sie wollte unter denjenigen sein, „die wissen, was Krieg ist“. Im Zug von Polen in die Ukraine sei sie in Tränen ausgebrochen: „Es ist vorbei, ich komme nach Hause.“

Im Land herrschen teils chaotische Zustände. In den meisten Städten heulen die Warnsirenen nach wie vor mehrmals am Tag. Für die junge Filmproduzentin ist es jedoch beruhigend, zu wissen, dass sie nicht allein ist: Mehr als 2,5 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer sind seit dem Beginn der russischen Invasion nach Hause zurückgekehrt. Sechs Monate nach ihrer Rückkehr bereut Daria nichts. Sie sagt, sie werde in jedem Fall in der Ukraine bleiben – „bis zum Sieg“.

Léa Masseguin ist Journalistin beim Ressort Internationales der französischen Zeitung Libération aus Paris. Die Langversion dieses Berichts (auf Englisch) können Sie auf europeanfocus.eu lesen.

Essengehen trotz Stromausfall

Obwohl es keinen Strom gibt, bieten die Restaurants auf dem beliebten Kiewer Lebensmittelmarkt Wein, Kerzen und Gerichte an, die auf Gaskochern auf der Straße erhitzt werden. Laut der Politikerin Victoriia Siumar, die dieses Foto gemacht hat, herrscht hier abends reges Treiben.

© Foto: Victoriia Siumar

„Jedes Mal ist es wie das nächste Level in einem Computer-Survival-Spiel. Mal gibt es keine Strom- oder Wasserversorgung, mal kommen verängstigte Mitarbeiter nicht zur Arbeit. Oder sie tauchen auf, halten aber dem Druck nicht stand,“ fasst Anna Zawertajlo, Mitinhaberin der beliebten Honey-Cafés in Kiew, zusammen. Seit den russischen Angriffen auf die Versorgungsinfrastruktur der Ukraine, die am 10. Oktober begannen, gibt es in Kiew täglich Stromausfälle und -abschaltungen, um Energie zu sparen. In Annas Café versucht man, sich darauf einzustellen: Wenn der Strom ausfällt, tragen die Konditoren Stirnlampen, um weiter an ihren Desserts arbeiten zu können.

Das gleiche Bild zeigt sich vielerorts beim Essengehen in der Stadt. Das Ornament Café bot nach den ersten Stromausfällen zunächst nur eine begrenzte Auswahl an Getränken an, beispielsweise Filterkaffee, der im Voraus gebrüht und dann aus der Thermoskanne ausgeschenkt werden kann. Nach dem Kauf eines kleinen Gaskochers sind nun aber wieder alle Getränke erhältlich. Kha.food, das die traditionelle quadratische Pizza in Charkiw anbietet, gibt seine aktuellen Öffnungszeiten täglich in den sozialen Netzwerken bekannt. Das griechische Restaurant Chaika weist darauf hin, wenn der Strom ausfalle, gebe es Gerichte direkt vom Grill.

Nicht nur die Gastronomie passt sich an. Viele Unternehmen und Haushalte kaufen Dieselgeneratoren, um im Falle eines Stromausfalls weiterhin versorgt zu sein. Der Kiewer Geschäftsmann Ilya Kenigstein hat einen großen Generator gekauft, um den Betrieb seines Co-Working Centers Creative States aufrechtzuerhalten. In der vergangenen Woche waren alle Einzel-Arbeitsplätze restlos ausverkauft. Inzwischen gibt es Wartelisten für Teams, die die Büros mieten wollen.

„Als der Krieg ausbrach, haben wir verstanden, wie wichtig es ist, hier zu bleiben,“ sagt Zawertajlo. „Wir sind hier, um zu arbeiten, etwas zu erschaffen, zu gestalten und uns gegenseitig zu unterstützen. All diese Erschwernisse scheinen unsere Werte zu beeinflussen. Wir müssen diesen Weg gemeinsam gehen. Sie [die Russen] werden uns nicht unterkriegen.“

Mascha Schartowska ist Politik-Journalistin bei Babel aus Kiew.

Gefühl der Einigkeit

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Am 9. November, dem Tag der ukrainischen Schrift und Sprache, wurde das alljährliche „Diktat zur nationalen Einheit“, das vom ukrainischen öffentlich-rechtlichen Rundfunk organisiert wird, zum viralen Hit im Internet. Das Thema des diesjährigen Diktats ging vielen offensichtlich sehr nahe.

Bei dieser Radio-, Fernseh- und Online-Veranstaltung werden die Zuhörer aufgefordert, die Worte eines Essays korrekt mitzuschreiben. Der diesjährige Beitrag der Schriftstellerin Iryna Zilyk war dem Konzept Heimat gewidmet – das Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern durch die russische Invasion gestohlen wurde.

Viele Zuhörer, die vor dem Krieg geflohen sind oder zu den Waffen gegriffen haben, um ihr Land zu verteidigen, fanden sich fern der eigenen Heimat wieder und schrieben somit gemeinsam Worte über einen Ort, der ihnen am Herzen liegt.

„Manchmal passt ein Zuhause in einen Koffer. Wir sind jetzt wie Schnecken, [wir] kennen den Preis großer Wanderungen,“ heißt es in dem Essay.

Viele waren zu Tränen gerührt, darunter auch der TV-Moderator der Veranstaltung, Roman Koljada, dessen eigenes Haus im russischen Angriffskrieg zerstört wurde. In den sozialen Netzwerken fanden sich zahlreiche Bilder weinender Menschen und feuchter Taschentücher.

Anna Myroniuk ist die Leiterin der Investigativredaktion bei The Kyiv Independent, dem größten englischsprachigen Medienhaus der Ukraine.

Danke, dass Sie die achte Ausgabe von European Focus gelesen haben!

Ob bald vermehrt Geflüchtete aus der Ukraine kommen, hängt von mehreren Faktoren ab, zum Beispiel von der Anzahl der gelieferten modernen Luftabwehrraketen, der Ausdauer der ukrainischen Armee – und dem Wetter. Sich auf letzteres zu verlassen, scheint allerdings riskant, denn der Mensch kann das Wetter nicht einfach per Knopfdruck beeinflussen. Die Prognosen der Meteorologen sind aber durchaus ermutigend: Der kommende Winter soll in Europa voraussichtlich ungewöhnlich warm ausfallen. Im Allgemeinen ist dies natürlich keine gute Nachricht. Doch in diesem Jahr ist sie höchst willkommen.

Bis nächste Woche! 

Anton Semischenko

Der Newsletter European Focus wird von der Europäischen Union finanziert. Die geäußerten Ansichten und Meinungen sind ausschließlich diejenigen der Autor:innen und spiegeln nicht notwendigerweise die der Europäischen Union oder von „Creative Europe“ wider. Weder die EU noch die ausstellende Behörde können für sie zur Verantwortung gezogen werden.

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