zum Hauptinhalt
Das Logo des neuen European-Focus-Newsletters

© Tagesspiegel / European Focus

European Focus #7: Hat sich Russland heute schon in Ihr Leben eingemischt?

+++ Putin auf der Brust +++ 19 Prozent +++ Wieder Spannungen an Polens Grenzen? +++ Russische Desinformation auf Spanisch +++ Salz in den Wunden des Balkans +++

Hallo aus Tallinn,

während ich diese Zeilen schreibe, hat gerade der russische Oligarch Jewgeni Prigoschin erklärt, Russland habe sich in die US-Wahlen eigemischt. „Wir haben uns eingemischt, wir mischen uns ein und wir werden uns weiterhin einmischen,“ sagte er. Das dürfte nicht nur für die eine Seite des Atlantiks gelten, sondern auch hier in Europa. 

Beobachten konnte man dies zum Beispiel schon in Estland. Es gab Cyberattacken. Es gab ausgeklügelte Desinformationskampagnen. Wir haben aufgehört zu zählen, wie viele russische Spione wir erwischen.

Da Russlands verbrecherischer Krieg gegen die Ukraine ins Stocken gerät und die Nutzung von Energielieferungen als Waffe gegen Europa sich zunehmend als unwirksam erweist, sollten und müssen wir mit neuen, verdeckten und bösartigen Versuchen rechnen, uns in ganz Europa zu schaden. Ziel ist es, zu weiteren nationalen und internationalen Spannungen beizutragen.

Wie es der scheidende estnische Geheimdienstchef Mikk Marran kürzlich in einem Interview mir gegenüber ausdrückte: „Die Russen planen nach wie vor, den Westen zu zermürben – weil sie davon ausgehen, dass der Westen schneller mürbe wird. “Wir hoffen, dass unsere Artikelauswahl in dieser Woche dazu beiträgt, die Versuche Russlands, unsere Gesellschaften und Nationen zu spalten, etwas besser zu beleuchten.

Holger Roonemaa, dieswöchiger Chefredakteur

Putin auf der Brust

Es war ein sonniger Nachmittag im Jahr 2014. Nach der jährlichen Sommerrede des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán im Kurort Băile Tușnad (Tusványos auf Ungarisch) in Transsilvanien fielen mir drei Männer auf. Sie waren offenbar umtriebige Polit-Pilger. Ich habe hier schon viele seltsame Dinge gesehen, aber diese drei waren wirklich verstörend.

Zum Hintergrund: Orbán hält jedes Jahr eine „Rede zur Lage der Nation“ in Rumänien, die sich an die rund 1,2 Millionen Menschen große ungarische Minderheit im Nachbarland richtet. Mehr als 500.000 von ihnen haben die doppelte Staatsbürgerschaft und somit das Recht, an ungarischen Wahlen teilzunehmen. Über 90 Prozent dieser Wählerinnen und Wähler unterstützen Orbáns Fidesz-Partei. Sein alljährlicher Auftritt in Transsilvanien ist also wahlentscheidend.

Was mir bei der besagten Rede damals auffiel: Die drei Orbán-Fans trugen T-Shirts mit dem Konterfei Wladimir Putins. 

Seitdem hat sich einiges getan und verdeutlicht. Das ungarisch-russische politische Bündnis ist regelrecht aufgeblüht. Mit dem Beginn des russischen Krieges in der Ukraine hat diese Zusammenarbeit auch einen eigenen transsilvanischen Aspekt bekommen.

Im Krieg in der Ukraine geht es um die Rechte von Minderheiten – zumindest wird das den ungarischen Wählern in Transsilvanien täglich von den ungarischen Staatsmedien und Meme-Fabriken erzählt. Russland und Putin persönlich (wie auch Orbán) sind demnach Verfechter der Minderheitenrechte. Putin gibt den Russen lediglich „ihre“ Territorien zurück.

Fragt sich: Sollten Transsilvanien oder das ukrainische Transkarpatien, das ebenfalls von einer ungarischen Minderheit bewohnt wird, als nächstes dran sein? Die ungarische Propaganda bietet diesbezüglich zwar keine ausdrücklichen Versprechungen, schürt aber immerhin unverbindliche Hoffnungen.

Laut Umfragen sieht sich derweil die rumänische Mehrheit eher als Befürworter der Ukraine. Und: Der ungarische Revisionismus macht ihnen Angst.

So wirft der Krieg zwischen Russland und der Ukraine einen Schatten auf das ungarisch-rumänische Verhältnis.

An einem heißen Oktoberabend hier in Transsilvanien verkündete ein ungarischer Rechtsextremist kürzlich, dass die Ungarn auf die Annexion Transsilvaniens sowie auf die folgende Unterdrückung der Juden und der Roma vorbereitet sein müssten – und dass eine der örtlichen Journalistinnen gehängt werden sollte. Die rumänischen Reaktionen darauf kamen umgehend und waren deutlich. Sogar der Premierminister verurteilte den Mordaufruf.

Die Journalistin, die gehängt werden soll, bin übrigens ich. Ich bin mir nicht sicher, welche T-Shirts mit wessen Konterfei Menschen wie mich schützen könnten.

Boróka Parászka ist Journalistin und Redakteurin bei hvg.hu. Sie lebt im rumänischen Târgu Mureș / Marosvásárhely.

Zahl der Woche: 19 Prozent

Laut einer aktuellen Studie ist fast jeder fünfte Deutsche (19 Prozent) der Ansicht, die NATO habe Russland zum Krieg gegen die Ukraine provoziert. Im April glaubten dies noch zwölf Prozent. 

Wie die Studie nahelegt, vermittelt die pro-russische Propaganda ein verzerrtes Bild, in dem die USA grundsätzlich negativ dargestellt werden und Russland verherrlicht wird. Antidemokratische Akteure wie die rechte AfD verbreiten ebenfalls Desinformationen, um das Vertrauen in die Demokratie zu schwächen, so die Autoren.

Tatsächlich glauben weitere 21 Prozent, die NATO trage zumindest eine Mitschuld an Russlands Krieg. Was sind laut Studie die politischen Schlussfolgerungen und Effekte der Desinformation? Eine Feststellung: Skeptiker sprechen sich eher gegen Sanktionen aus.

Farangies Ghafoor ist Datenjournalistin und berichtet für den Tagesspiegel aus Berlin über Gesundheits- und Lifestyle-Themen.

Wieder Spannungen an Polens Grenzen?

Im Sommer vergangenen Jahres hatte der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko eine aufwändige Aktion gestartet, bei der tausende Migranten aus dem Nahen Osten an die polnische Grenze gebracht wurden. In Warschau fragt man sich nun, ob sich dies wiederholen könnte, und zwar an den Grenzen der russischen Enklave Kaliningrad.

Aus Sicht der polnischen Regierung ist dies sehr wahrscheinlich. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums gibt es nachrichtendienstliche Informationen, dass Russland einen „hybriden Angriff“ an den Grenzen von Kaliningrad vorbereite. Details hat das Ministerium allerdings nicht bekannt gegeben. In jedem Fall sehe der angebliche Plan vor, Migranten aus Afrika und dem Nahen Osten mit Flugzeugen nach Kaliningrad zu bringen, um sie dann über die Grenze nach Polen zu drängen.

Aus diesem Grund hat das polnische Militär am vergangenen Mittwoch damit begonnen, entlang der gesamten 200 Kilometer langen Grenze zu Russland einen 2,5 Meter hohen Zaun mit dreifachem Stacheldraht zu errichten, ähnlich dem Zaun, den die polnische Regierung im vergangenen Jahr entlang der 186 Kilometer langen Grenze zu Belarus errichten ließ. Ob die Migranten dadurch tatsächlich abgeschreckt wurden oder Belarus lediglich seine Aktion einstellte, ist umstritten – ebenso wie die Frage, ob Russland wirklich eine derartige Operation im Gebiet Kaliningrad durchführen will.

Im vergangenen Jahr hatte der Bau des Zauns die ohnehin tief gespaltene polnische Gesellschaft weiter polarisiert. Während die staatlichen Medien die Maßnahme nachdrücklich unterstützten, warfen die Zaun-Gegner der Regierung mangelnde Menschlichkeit vor. Tatsächlich starben mehr als ein Dutzend Menschen in den belarussischen Wäldern an Erschöpfung, weil Polen sich weigerte, sie einreisen zu lassen.

Jetzt beschuldigen Teile der Opposition und der Medien die Regierung erneut der Propaganda. Für die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) steht derweil noch etwas anderes auf dem Spiel: Sie muss ihre Wählerschaft vor den Wahlen im kommenden Jahr mobilisieren. Je höher die Wahlbeteiligung, desto sicherer gilt ein Sieg der Partei. Eine neue „Flüchtlingskrise“ könnte helfen, mehr Stimmen für die PiS zu gewinnen.

Michał Kokot arbeitet im Auslandsressort der Gazeta Wyborcza und befasst sich dort mit Politik und Gesellschaft Mitteleuropas.

Russische Desinformation auf Spanisch

„In Spanien sind sich die Menschen der Auswirkungen der russischen Desinformation nicht sonderlich bewusst, wobei sich dies durch die Invasion in der Ukraine aber glücklicherweise etwas geändert hat. Das eigentliche strategische Ziel dieser Kampagnen ist allerdings nicht so sehr Spanien, sondern das spanischsprachige Lateinamerika. Hier hat Russland klarere Interessen – und Sympathien in großen Teilen der Bevölkerung. In den vergangenen drei Jahren haben russische Medien bei mindestens einem halben Dutzend lateinamerikanischer Wahlen Kampagnen durchgeführt und Einfluss genommen. In mehreren Fällen sind die von ihnen favorisierten Kandidaten an die Macht gekommen, auch wenn die russische Einmischung dabei nicht der entscheidende Faktor war. Nach und nach werden sich einige Regierungen in der Region der Kraft und der Gefahren dieser Kampagnen bewusst.“

Für den dieswöchigen European Focus hat unsere Kollegin Alicia Allamilos einen Mann interviewt, der sich beruflich mit russischen Desinformationskampagnen in Spanien und in der spanischsprachigen Welt beschäftigt. Aus Sicherheitsgründen möchte unser Interviewpartner anonym bleiben.

Alicia Alamillos ist Journalistin mit Fokus auf internationale Nachrichten bei El Confidencial aus Madrid.

Salz in den Wunden des Balkans

Die strategischen Ziele Russlands auf dem Westbalkan sind seit langem klar: Der Kreml macht sich die korrupten lokalen Eliten sowie die bestehenden ethnischen Spannungen zunutze, um antiwestliche Stimmung zu schüren, die ohnehin schon schleppenden Reformpläne der Region zu erschweren und den Beitritt weiterer Länder zur Europäischen Union und/oder NATO zu verhindern.

Dazu gehören die Weigerung, die Unabhängigkeit des Kosovo anzuerkennen, ein Putschversuch in Montenegro sowie die Unterstützung für politische Führer in Bosnien und Herzegowina, die sich für Abspaltungen ihrer jeweiligen Landesteile aussprechen. Die jüngste bulgarische Blockade gegen die EU-Bestrebungen Nordmazedoniens bietet ebenfalls Raum für russischen Einfluss. Das Gleiche gilt für Serbien, wo Moskau aus dem anhaltenden serbischen Zorn über die NATO-Angriffe von 1999 Kapital geschlagen hat.

Allerdings ist es nicht der Kreml, sondern die EU selbst, die schon seit Langem Gründe und Erklärungen für diese Entwicklung liefert.

Zwar haben die Friedensmissionen in Bosnien und im Kosovo eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung der dortigen Stabilität gespielt, doch inzwischen hat die europäische Unentschlossenheit zu einem Anstieg der antiwestlichen Stimmung und zu Zweifeln an der tatsächlichen Absicht der EU, der Balkan-Region einen Weg in die Zukunft zu weisen, geführt.

In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat Brüssel seinen Fokus auf die Region schlichtweg verloren und ist dazu übergangen, die EU-Perspektiven der jeweiligen Länder eher ambivalent zu sehen. Es überrascht nicht, dass sich dadurch viele Bürgerinnen und Bürger in den Balkanstaaten verprellt fühlen. Die Ideale der EU erscheinen ihnen zunehmend wie ein Luftschloss. So musste der Kreml nur noch Salz in die bereits entstandenen Wunden des Balkans streuen.

„Russlands Strategie war es, die Konflikte auf dem Westbalkan zu instrumentalisieren. Wir möchten dem entgegenwirken [...] und wir möchten diese Länder näher an die EU heranführen,“ erklärte ein hochrangiger deutscher Diplomat gegenüber Euractiv in der vergangenen Woche bei einem Treffen mit Vertretern der Region in Berlin.

Tatsächlich ist es an der Zeit, dass Brüssel handelt. Russlands Krieg ist ein Weckruf, den Erweiterungsprozess wiederzubeleben und die strategische Vision der EU zu präzisieren. Andernfalls riskiert Europa, die Sympathien der Menschen auf dem Balkan zu verlieren und somit seinen eigenen Hinterhof verwundbar zu machen. Das wäre gefährlich, auch für die EU selbst.

Siniša-Jakov Marusic ist Journalist in Skopje. Er schreibt für Balkan Insight, vor allem über Rechtsfragen in der Balkan-Region.

Danke, dass Sie die siebte Ausgabe von European Focus gelesen haben!

Was können wir tun, um nicht an russischer Einflussnahme zu zerbrechen und die (bisherige) starke Geschlossenheit des Westens aufrechtzuerhalten, die der Krieg in der Ukraine hervorgerufen hat? Der beste Weg, derartige Kampagnen zu bekämpfen, ist, sie aufzudecken. Das ist eine besondere Stärke der Demokratie: ein wirklich unabhängiger und freier Journalismus.

Wenn Ihnen dieser Newsletter gefällt, leiten Sie ihn doch an Ihre Freundinnen und Freunde oder Kolleginnen und Kollegen weiter. Wir freuen uns auch über Rückmeldungen, Kritik und Anregungen für zukünftige Ausgaben!

Bis nächste Woche! 

Holger Roonemaa

Der Newsletter European Focus wird von der Europäischen Union finanziert. Die geäußerten Ansichten und Meinungen sind ausschließlich diejenigen der Autor:innen und spiegeln nicht notwendigerweise die der Europäischen Union oder von „Creative Europe“ wider. Weder die EU noch die ausstellende Behörde können für sie zur Verantwortung gezogen werden.

Melden Sie sich hier für den European Focus-Newsletter an.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false