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Alma Zadic wird am Dienstag als jüngste Justizministerin in der Geschichte Österreichs vereidigt.

© imago images/Eibner Europa

Neue Regierung in Österreich: Alma Zadic – das Flüchtlingsmädchen, das Justizministerin wurde

Für Alma Zadic, die als Zehnjährige aus Bosnien floh, wird das schwarz-grüne Experiment in Österreich zur Gewissensfrage. Denn die Asylpolitik bestimmt die ÖVP.

Es ist ihre zweite Rede im österreichischen Parlament, als Alma Zadic von ihrer Vergangenheit eingeholt wird. Als sie sich daran erinnert, weiß sie nicht mehr genau, worüber sie überhaupt gesprochen hat. Nur dass aus den Reihen der rechtspopulistischen FPÖ jemand dazwischenruft: „Geh bitte, Alma, das stimmt doch nicht!“

Sie muss sich einen Moment fangen, so berichtet sie es später in einem Interview mit dem österreichischen Nachrichtenmagazin „Profil“. Weil sie, und sei es nur ganz kurz, in diesem Moment nicht mehr Frau Doktor Zadic ist, international erfolgreiche Rechtsanwältin mit Abschlüssen in Wien und New York, Abgeordnete des Nationalrats. Sondern Alma, das bosnische Flüchtlingsmädchen. Alma, das Feindbild.

Gut zwei Jahre ist das her. Am Dienstag wird Alma Zadic mit 35 Jahren als Justizministerin Österreichs vereidigt. Es ist ein einzigartiges Experiment in Europa. Die erste schwarz-grüne Koalition auf nationaler Ebene. Türkis-Grün, wie das in Österreich heißt. Und es sind maximale Gegensätze, die da aufeinanderprallen.

„Es ist möglich, gleichzeitig das Klima und die Grenzen zu schützen“, hatte der ehemalige und baldige Bundeskanzler Sebastian Kurz gesagt. Abschotten und die Luft bleibt sauber, so kann man das lesen, in einem Land, das unter ihm weit nach rechts gerückt ist.

Sebastian Kurz wird erneut Bundeskanzler von Österreich. In Asyl- und Steuerfragen konnte er sich durchsetzen.

© AFP

Das Dilemma, in dem beide Parteien nun stecken, das Regierungsprogramm, das für beide Seiten einem Pakt mit dem Teufel gleich kommt, spiegelt sich vielleicht in keiner Person so wider wie in Alma Zadic.

Sie hat den Koalitionsvertrag mitverhandelt. Und von ihrer Position im Justizministerium wird auch abhängen, ob zusammenwachsen kann, was eigentlich nicht zusammen gehört.

Die Abneigung gegeneinander sitzt tief

Hier die ÖVP, seit 1987 in der Regierung, machtbewusst, eng verbunden mit Industrie, katholischer Kirche und der mächtigen Bauernlobby, das alte Österreich, von Sebastian Kurz in ein modernes, türkisfarbenes Gewand gekleidet. Dort die Grünen, gegründet von Atomkraftgegnern und Marxisten, 1986 erstmals im Parlament, noch nie in einer Bundesregierung, 2017 aus dem Nationalrat geflogen und 2019 wiederauferstanden dank Ibiza-Gate und Greta Thunberg.

Wie weit Grüne und ÖVP voneinander entfernt sind, zeigte sich schon im September in einem Festzelt in Ried im Innkreis. Zwischenstation für ÖVP-Spitzenkandidat Kurz im Wahlkampf, Lokalmatador August Wöginger, den sie in der Partei nur „Gust“ rufen, gibt den Einpeitscher, in Trachtenweste und Innviertler Dialekt: „Es kann ja net sein, dass unsere Kinder nach Wien fahren und als Grüne zurückkommen.“

Alma Zadic trat erst im Juli den Grünen bei. Zuvor war sie für die Liste Pilz im Nationalrat.

© imago images/Manfred Siebinger

Die Stadt als Sündenpfuhl, die Grünen als verirrte Seelen, als verlorene Söhne und Töchter – so altmodisch Wögingers Festzeltrede klingt, soziologisch trifft er einen Kern: „Die Grünen sind ein Produkt der Landflucht und des sozialen Aufstiegs“, formulierte es einmal der Chef des Sozialforschungsinstituts Sora, Günther Ogris. Die typische Grün-Wählerin ist weiblich, gut gebildet und wohnt in der Stadt. Die stärksten fünf Wahlkreise der Grünen liegen allesamt in Wien, während die ÖVP traditionell auf dem Land dominiert.

"Schnöseltruppe!", "Rechtspopulisten!"

Wöginger holte bei den Wahlen im September im Innviertel 43,75 Prozent für die ÖVP. Sechs Wochen später reiste er nach Wien, um an der Seite von Sebastian Kurz mit den Grünen über eine Koalition zu verhandeln, die vor der Wahl keiner so recht gewollt hatte. Weder die Wähler, die in Befragungen eine türkis-grüne Koalition eher skeptisch betrachteten. Noch die Parteien und ihre Chefs. Sebastian Kurz ließ keine Gelegenheit aus, die „inhaltlich gute Zusammenarbeit“ mit den Rechtsaußen von der FPÖ zu loben. Sein Wahlversprechen: eine „ordentliche Mitte-Rechts-Politik“. Ein Lockruf Richtung Grüne klingt anders.

Der Grünen-Vorsitzende Werner Kogler hatte die ÖVP im Wahlkampf als „türkise Schnöseltruppe" verspottet, die unter Sebastian Kurz „mindestens rechtspopulistisch“ unterwegs sei. Gefragt, wie groß er die Chance auf eine Koalition einschätze, formte er mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis – null Prozent.

Mit am Verhandlungstisch saß Alma Zadic. Sie ist erst im Juli den Grünen beigetreten, war zuvor schon für die Liste Pilz im Nationalrat und lief dann über.

Schon bei den Sondierungsgesprächen zwischen Grünen und ÖVP saß Alma Zadic mit am Tisch.

© imago images/photonews.at

Auf dem Bundeskongress am vergangenen Samstag in Salzburg wirbt sie mit einer Rede für das ungleiche Bündnis. Im gelben Pullover betritt sie die Bühne und erzählt den 296 Delegierten von ihrer Flucht, von ihrem Ankommen in Österreich und von ihrer Furcht: „Meine Familie hatte Angst, ob wir nicht, wenn Schwarz-Blau kommt, zurückkehren müssen“, sagt sie. „Aber es kam anders. Wir sind immer noch da.“ Sie ist noch da.

Und dann sagt sie, was für die Grünen-Basis wie ein Versprechen und für die ÖVP wie eine Drohung klingen mag: „Es macht einen Unterschied, wer regiert. Es wird einen Unterschied machen, dass es eine Ministerin gibt, die nicht in Österreich geboren ist.“

Eine Lehrerin entriss Zadic die Textaufgabe: "Du kannst das eh nicht!"

Alma Zadic wurde in Tuzla geboren, einer Industriestadt im Nordosten von Bosnien-Herzegowina. Als die Jugoslawienkriege beginnen, ist sie sieben Jahre alt. Sie ist zehn, als der Krieg ihre Familie im April 1994 nach Österreich treibt. „Ich kam sofort an eine Wiener Volksschule, war aber damals die einzige Ausländerin in der Klasse“, sagte Zadic der österreichischen Zeitung „Kurier“ einmal. Ihre Lehrerin, erinnert sie sich, habe ihr eines Tages eine Textaufgabe wieder aus der Hand gerissen mit den Worten: „Du kannst das eh nicht.“

Ihre Sicht auf Migrationspolitik hat dieser Moment geprägt. Ihre Sicht auf Identität auch. Erst bei ihrem Studium an der Columbia University in New York habe sie erkannt, dass sie sich nicht entscheiden müsse. „Ich kann sowohl Bosnierin sein als auch Österreicherin.“ Immer wieder hat sie sich in den vergangenen Jahren dafür bedankt, wie freundlich sie – alles in allem – in Österreich aufgenommen wurde. Dass genau dies der Schlüssel zur Integration sei. Nun wird vielleicht genau diese Frage zur Bewährungsprobe für die Koalition – und ihr Gewissen.

Ein Großteil der Grünen-Delegierten stimmt für die Koalition. Das Risiko zu scheitern ist groß. Doch was wäre die Alternative?, fragte Bundeschef Kogler.

© AFP

Denn das klare Übergewicht der 37-Prozent-Partei ÖVP gegenüber den 14 Prozent der Grünen spiegelt sich nicht nur im Kabinett wieder, wo 11 von 15 Mitgliedern von der ÖVP kommen. Auch das Programm trägt mehrheitlich eine türkise Handschrift. Vor allem dort, wo es richtig weh tut für die Grünen, im Bereich Migration: keine freiwillige Aufnahme von Flüchtlingen, Aufstockung von Frontex, „Sicherungshaft“ für potenziell gefährliche Asylbewerber.

Besonders der letzte Punkt erhitzt die Gemüter der Grünen: Die Haft auf Verdacht geht auf die ÖVP-FPÖ-Regierung zurück, die dafür heftig von der Opposition attackiert wurde – am lautesten von Alma Zadic, die Österreich auf dem „Weg in den autoritären Unrechtsstaat“ wähnte. Nun müsste jene Zadic darüber entscheiden, ob sie als Justizministerin eine solche Präventivhaft mit vorantreiben will.

Werner Kogler, Bundessprecher der Grünen, schwört die Delegierten auf die Koalition mit der ÖVP ein.

© dpa

Dass das überhaupt denkbar erscheint, basiert auf einer bemerkenswerten Formel, auf die sich beide Parteien geeinigt haben: keine Kompromisse und klare Kompetenzen. Sebastian Kurz darf seine harte Linie in der Asyl- und Migrationspolitik durchziehen, dafür erhalten die Grünen ein Superministerium für Umwelt, Verkehr und Infrastruktur. In der Steuerpolitik setzt die ÖVP die Schwerpunkte, die Grünen drücken ein Transparenzpaket durch.

„Innovativ und praktikabel“, findet Sebastian Kurz das Regierungsprogramm. Doch Alma Zadic ist nicht aus Pragmatismus in die Politik gegangen.

"Warum moch ma net glei an Terroristn zum Innenminister?"

Schon seit ihrem ersten Wahlkampf ist ihr diese Frage immer und immer wieder gestellt worden. Warum tut sie sich das an? Den gutbezahlten Job in der Wirtschaftskanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer aufgeben, sich der Öffentlichkeit stellen – und dem Hass. Erst vergangene Woche brach er auf Twitter wieder über sie herein: „Ein Ausländerin wird Justizministerin, das ist ein Witz, oder?“, „Schon alleine, wenn ich den Namen lese“, „Jetzt bekommen Ausländer Ministerposten. Der Untergang Österreichs.“, „Warum moch ma net glei an Terroristn zum Innenminister?“

Ist es das wert? Und immer wieder gibt sie darauf die gleiche Antwort, aber nie so ehrlich wie im April vergangenen Jahres beim Nischensender Latin Lounge Radio. Damals regiert die ÖVP noch zusammen mit der FPÖ: „Wir haben eine Regierung, die (...) teilweise Äußerungen von sich gibt, die nicht mehr in Ordnung sind. Wir haben einen Innenminister Kickl, der sich mit der rechtsextremen Identitären Bewegung teilweise identifiziert, ihre Parolen verwendet“, sagt Zadic. Und: „Der Hass in der Bevölkerung wird einfach geschürt. Und da habe ich gesagt, das ist für mich eine rote Linie. Und ich will Stopp sagen.“

Gäbe es Heinz-Christian Strache und seine Ibiza-Affäre nicht, würde die ÖVP wohl noch heute mit der FPÖ regieren.

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Kann das noch gelingen, wenn sie nun mit der ÖVP zusammen auf derselben Regierungsbank sitzt? Kann es nur dort gelingen?

Mit jener ÖVP, die noch heute mit der FPÖ zusammenarbeiten würde, hätte es die Ibiza-Affäre nicht gegeben. Hätten nicht im Mai 2019 Videos belegt, dass FPÖ-Vizekanzler Heinz-Christian Strache einer vermeintlichen russischen Oligarchin Staatsaufträge zuschanzen und eine der führenden Zeitungen des Landes auf Linie bringen lassen wollte.

Alle Opfer könnten umsonst gewesen sein

Eine erneute Regierungsbeteiligung der FPÖ haben die Grünen samt Zadic mit ihrer Kompromissbereitschaft verhindert. Doch nur vorerst. Auf Seite 200 des Regierungsprogramms findet sich ein Einschub, wenige Sätze und sieben Stichpunkte lang, die das Opfer der Grünen vergeblich werden lassen könnten: „Modus zur Lösung von Krisen im Bereich Migration und Asyl“. Im Deutsch der Politikwissenschaft spricht man von „koalitionsfreien Räumen“. Darin heißt es, herrsche trotz „akutem Handlungsbedarf“ in Migrationsfragen Uneinigkeit, dürfen beide Parteien um eigene Mehrheiten werben. Wer die Sitzverteilung im Parlament im Kopf hat, weiß: Praktisch bedeutet die Regelung, dass die ÖVP notfalls mit der FPÖ die Grenzen dicht macht – ohne Koalitionsbruch.

Praktisch bedeutet es auch, wenn Zadic nicht umsetzt, was Kurz will, könnte die größte Angst des Flüchtlingsmädchens Alma wiederkehren: die Freiheitlichen durch die Hintertür mitbestimmen.

Frau Doktor Zadic sagt es wenige Tage vor ihrer Vereidigung als Justizministerin so: „Das Ringen um jede Formulierung wird ab dem Tag der Angelobung weitergehen.“

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