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Kleinkantschile haben eine Vorliebe für Obst. Ihre Mägen bestehen aus drei Abschnitten.

© imago/Westend61

Berliner Schnauzen: Kleinkantschil: Undercover im Gehege

Es hat keinen Namen und soll für den russischen Geheimdienst arbeiten: Das Kleinkantschil führt ein Leben im Untergrund. Haben die Pfleger im Zoo wirklich alles unter Kontrolle?

Die Pfleger des Berliner Zoos denken, sie wüssten, was in ihren Mauern vor sich geht. Sie denken, sie seien vertraut mit den Verhaltensweisen und Eigenheiten ihrer Tiere. Sie denken, sie hätten die Kontrolle. Doch sie übersehen etwas.

Das Kleinkantschil aus der Familie der Hirschferkel wirkt durch sein unscheinbares Äußeres harmlos. Es ist kaum größer als ein Feldhase und nur halb so schwer. Stehend erinnert sein Körperbau leicht an einen Rammbock, wenn auch an einen etwas schmächtigen. Das liegt daran, dass die bleistiftdünnen Beine vorne kürzer sind als hinten. Dank dieser Idee der Evolution kann es – nach dem gleichen Prinzip wie ein Formel-1-Wagen – gut das dichte Unterholz der Wälder durchdringen, in denen es zu Hause ist.

In seinem Gehege führt das Kleinkantschil bewusst ein Leben im Untergrund. Aus Gründen der Verwirrung wohnt es nicht etwa bei den anderen Säugetieren, sondern hat sich bei den Vögeln einquartiert. Hier, zwischen Perlhühnern und Reisfinken, kümmert es sich mit seinen drei Kollegen um seine Geschäfte. Unter dem Vorwand, nachtaktiv zu sein, agiert es nur nach Sonnenuntergang, tagsüber taucht es unter. Als kleinster aller Paarhufer ist ihm das ein Leichtes. Nicht einmal einen Namen hat es sich aufzwingen lassen, es bleibt eine Nummer. Das Kleinkantschil ist undercover.

Die Lieferungen, die es reinbekommt, nimmt das Kleinkantschil nicht persönlich entgegen. Es lässt sie in seinem Domizil abstellen, ohne sich zu zeigen. Erst im Mondschein frisst es Blätter und Knospen. Außerdem hat es eine Vorliebe für Obst. Alles Verzehrte wird in seinen Mägen gründlich wiedergekäut. Anders als sein entfernter Verwandter, der Hirsch, besitzt es statt vier Magenabschnitten nur drei. Für mehr ist kein Platz.

Die Evolution konnte ihm nicht viel anhaben

In Südostasien, wo das Kleinkantschil beheimatet ist, kennt es jedes Kind. Recht ist ihm das sicher nicht, deswegen hat es sich über die Jahrtausende eine falsche Identität zugelegt. In den Märchen der dortigen Regionen werden ihm ähnliche Eigenschaften zugeschrieben wie unserem Reineke Fuchs. Sogar eine malaiische Kinderserie ist ihm gewidmet. Ein bisschen wie Bambi sieht es darin aus, nur ist es witziger, smarter, ja, richtig gewieft schaut die animierte Version aus dem Bildschirm.

Das muss es auch sein, um sich gegenüber Fressfeinden zu behaupten: Würgeschlangen, Tiger, Krokodile und Greifvögel. Verständlich, dass es die Öffentlichkeit meidet.

Selbst was die Verbindung mit dem Partner angeht, bleibt es im höchsten Maße unverbindlich. Mal wurde Monogamie beobachtet, dann wieder ein schneller Wechsel der Liebschaften. Nicht einmal die Evolution konnte ihm viel anhaben, seine Gestalt hat es seit 50 Millionen Jahren kaum verändert.

Das Kleinkantschil ist im Zoo gut vernetzt. Mit den Buntspechten, die man immer wieder Morsezeichen klopfen hört, und den Riesenkängurus, von denen man munkelt, sie hätten einen Boxklub gegründet, soll es enge Beziehungen unterhalten. Viel mehr ist nicht bekannt. Es gibt Gerüchte, es arbeite für den russischen Geheimdienst. Anderen Stimmen zufolge sind es der Iran oder Saudi-Arabien. Wahrscheinlich hat es diese Spuren alle selbst gelegt. Sein wahrer Antrieb bleibt im Dunkeln.

Kleinkantschil im Zoo

Lebenserwartung:  Bis zu zwölf Jahre

Fütterungszeiten:  Jeden Morgen zwischen 9.00 und 10.30 Uhr

Yann Schmidt

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