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Das Göttinger Iduna Zentrum ist zu einem Corona-Hotspot geworden.

© imago images/Hubert Jelinek

Corona-Großausbruch in Göttingen: Roma erheben Vorwürfe gegen die Stadt – hat es die Familienfeiern nie gegeben?

Es habe keine privaten Feiern gegeben, sagen Roma-Familien. Sie beklagen eine Vorverurteilung durch die Stadt, verweigerte Tests und das Ignorieren von Hinweisen.

Roma-Familien aus Göttingen, die in kleinen Wohnungen das muslimische Zuckerfest gefeiert haben und deshalb für den massiven Ausbruch von Corona verantwortlich sein sollen, setzen sich jetzt gegen die Vorwürfe zur Wehr. In der Stadt haben sich in den vergangenen zwei Wochen mindestens 120 Menschen neu mit dem Virus infiziert, darunter 39 Schülerinnen und Schüler.

Nach Angaben des örtlichen Krisenstabes steckten sich viele bei privaten Feiern in dem Iduna-Zentrum genannten Wohnblock an. In einer Shisha-Bar, in die mehrere Jugendliche nach dem Fest weitergezogen seien, soll sich das Virus weiter verbreitet haben.

Die Stadtverwaltung hatte zudem mitgeteilt, dass viele der ermittelten „Kontaktpersonen ersten Grades“ der Aufforderung sich testen zu lassen nicht gefolgt seien. Ein den Roma-Familien zugeordneter „Patient Null“ könne das Virus weiter in die Stadt getragen habe, weil er ungeachtet einer Quarantäne-Verfügung mehrfach durch die Göttinger Fußgängerzone spaziert sei.

Die Folgen des Corona-Ausbruches in der Stadt sind drastisch: Die Stadt hat 13 Schulen und Kitas geschlossen, knapp 100 Kinder und Jugendliche müssen in Quarantäne. Der Bürgermeister erwog, den gesamten Gebäudekomplex abzuriegeln.

Bei den Familien handelt es sich um miteinander verwandte Roma aus dem Kosovo. Viele von ihnen flüchteten vor dem Bürgerkrieg in ihrer Heimat oder den Schikanen der neuen Regierungen nach Deutschland. Ihr Aufenthaltsstatus ist zum Teil ungesichert, manche Familienmitglieder werden von den Behörden lediglich geduldet.

Corona-Ausbruch in Göttingen: Teils wüste Hetze gegen Romafamilien

Wegen der Berichte über ihr vermeintliches Fehlverhalten in der Corona-Krise ergießt sich über die „arabisch-albanischen Clans“ („Bild“-Zeitung) seit Tagen eine teils wüste Hetze, die vor allem über die „sozialen Netzwerke“ verbreitet wird. „Asylbetrüger raus!“, ist dabei noch eine der eher zurückhaltenden Parolen.

[Mehr zum Thema: Iduna-Zentrum in Göttingen – Corona-Ausbruch im Brennpunkt „Villa Kuntergrau“]

In einer am Freitag über Facebook verbreiteten Erklärung betont ein betroffener Familienvater, der seinen Namen nicht angibt, dass es anlässlich des Zuckerfestes im Iduna-Zentrum gar keine privaten Feiern gegeben habe. Zusammengekommen seien „mehrere Personen“ lediglich in der nahegelegenen Moschee.

In der Tiefgarage des Iduna-Zentrum ist ein Zelt für die Covid-19-Testung aufgebaut.
In der Tiefgarage des Iduna-Zentrum ist ein Zelt für die Covid-19-Testung aufgebaut.

© Swen Pförtner/dpa

Bei dieser vom städtischen Ordnungsamt genehmigten Veranstaltung seien „sämtliche Abstands- und Hygieneregeln eingehalten“ worden.

Der „wahrscheinliche Patient Null“, heißt es weiter, sei nicht „Bestandteil unserer Familie“, es handele sich vielmehr um einen Bewohner des Iduna-Zentrums mit anderer Nationalität. Das Nicht-Einhalten von Hygiene- und Quarantäneregeln anderer Personen dürfe deshalb „nicht uns angelastet werden“.

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Auch Berichte über Familienmitglieder, die nicht zu Corona-Tests erschienen seien, sind aus Sicht des Schreibers „nicht nachvollziehbar“: „Tatsache ist, dass mehrere Familienmitglieder von Teststationen weggeschickt wurden, mit dem Hinweis, dass sie symptomfrei seien.“

Fanden gar keine Familienfeiern in Göttingen statt?

Ein sich „Jojo“ nennender Mann, der in diesen Tagen als eine Art Pressesprecher der Roma im Iduna-Zentrum fungiert, bestätigt die Angaben am Telefon. „Es gab keine private Feier“, sagt er. „Hundertprozentig nicht“. Und die Sache mit der Shisha-Bar? „Fake. Da ist nichts dran, überhaupt nichts dran“. Der Inhaber der Bar ist für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.

Gestützt wird der Facebook-Schreiber zudem durch eine Erklärung des Roma-Antidiskriminierungs-Netzwerks. Auch nach dessen Angaben fanden keine Feierlichkeiten statt. Als erster Bewohner des Iduna-Zentrums sei ein Mann an Corona erkrankt, der nicht zu den in den Medien beschuldigten „Großfamilien“ gehöre.

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Dieser habe mehrfach gegen Quarantäne-Auflagen verstoßen und das Gebäude verlassen. Andere Bewohner, darunter die nun kriminalisierten Familien, hätten die Behörden mehrfach darauf hingewiesen, dass der Infizierte sich nicht an die Quarantäne hielt, die Behörden hätten darauf jedoch zunächst nicht reagiert. „Jojo“ zufolge stammt der Betreffende aus Afrika. „Der wurde dann erst aufgrund unserer Anrufe als ‚Patient Null‘ identifiziert“, sagt er.  

„Die Stadt hat nicht auf die Beschwerden der Bewohner, dass ein Mann gegen die Quarantäne verstoßen habe, reagiert und schiebt nun ihr eigenes Versagen auf die Bewohnerinnen“, beklagt das Roma-Netzwerk. Zu keinem Zeitpunkt sei versucht worden, zusammen mit den Betroffenen nach Lösungen zu suchen.

Familien im Iduna Zentrum organisieren Wohnsituation um

Dies wäre ein besserer Weg gewesen, statt „einseitig über die Menschen zu sprechen. Es ist schade, dass die Stadt Göttingen nicht einmal ein Familienmitglied zu den täglichen Pressekonferenzen eingeladen hat, um die Sicht der Bewohner darzustellen“.

Das Iduna-Zentrum im Stadtzentrum von Göttingen.
Das Iduna-Zentrum im Stadtzentrum von Göttingen.

© Swen Pförtner/dpa

Dem Netzwerk zufolge haben die betroffenen Familien „die Angelegenheit nun in die eigenen Hände genommen“: Sie hätten ihre Wohnsituation so organisiert, dass positiv auf das Virus getestete Personen in einer Wohnung lebten und die Gesunden in einer anderen. Die Gesunden versorgten ihre unter Quarantäne stehenden Angehörigen mit den Dingen des täglichen Bedarfs.

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Die Stadt Göttingen ließ eine Anfrage vom Freitagmorgen um Stellungnahme zu der Erklärung der Roma bis zum Abend unbeantwortet. In einer Pressekonferenz am Freitagnachmittag betonte die Stadt, es gebe keinen Grund, an den Familienfeiern zu zweifeln, von denen Kontaktpersonen berichtet hätten.

Bei den beengten Wohnverhältnissen im Gebäude und den vielen dort lebenden Kindern ist es zumindest theoretisch möglich, dass es auch ohne große Feste zu einer weitreichenden Ansteckung unter den Bewohnern gekommen ist. Überprüfen lässt sich das im Nachhinein aber kaum.

Schulen in Göttingen sollen am Montag wieder öffnen

Am Freitag begannen zudem Massentests in der Tiefgarage des Wohnkomplexes. Alle 605 gemeldeten Bewohner des Gebäudekomplexes sollen getestet werden. Zunächst setzen die Behörden auf Freiwilligkeit. Am Freitag schon ließen sich mehr als 200 Bewohner testen. Die Menschen seien sehr kooperativ gewesen, sagte ein Verwaltungssprecher.

Nennenswerte Zwischenfälle gab es nach Angaben der Polizei nicht. Die Beamten waren vor Ort, weil die Verwaltung angekündigt hatte, die verbindliche Teilnahme an dem Test zur Not mit Hilfe der Polizei durchzusetzen.

Unabhängig davon wurden am Freitag in Göttingen auch rund 250 Bewohner und Mitarbeiter eines Altenheims getestet, nachdem sich ein Mitarbeiter mit dem Coronavirus infiziert hatte. Weil viele Mitglieder der Großfamilien aktiv Sport treiben, hatte die Stadt in dieser Woche allen Göttinger Sportvereinen den Trainings- und Wettkampfbetrieb untersagt.

Weitere mögliche Einschränkungen machte die Verwaltung vom Verlauf des Infektionsgeschehens abhängig. Gefragt, wie er die Lage einschätze, hatte Oberbürgermeister Rolf-Georg Köhler (SPD) am Donnerstagabend geantwortet: „Die Ampel steht auf dunkelgelb.“ Am Montag sollen zudem die Göttinger Schulen wieder öffnen. (mit dpa)

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