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Was denken Berliner über die Lockerungen?: „Die Pandemie ist ja nicht plötzlich vorbei!“

Freude oder doch gemischte Gefühle? Wir haben acht Männer und Frauen gefragt, welche Erfahrungen sie mit den Lockerungen gemacht haben.

Was ändert sich mit der Lockerung der Corona-Regeln bei Ihnen? Wir haben mit acht Berlinerinnen und Berlinern gesprochen.

Chemie ohne Experimente, das geht nicht -
Oliver Lenz, Wissenschaftler an der TU Berlin

Das Problem ist: Forschung funktioniert hier nicht ohne Laborarbeit. Jedenfalls nicht, solange unsere Messreihen nicht abgeschlossen sind. Und das waren sie nicht, als wir am Freitag, dem 20. März um 15 Uhr alles abschalten mussten. Wir beschäftigen uns mit dem Enzym Hydrogenase. Das ist Grundlagenforschung, am Ende steht vielleicht die einfache Nutzung von Wasserstoff als Energieträger, der Öl und Gas ersetzen kann. Als der Shutdown kam, waren wir gerade dabei, extrem konzentrierte Proben für eine Messreihe im Juni in Japan herzustellen.

Doch langsam fahren wir jetzt wieder hoch. Immer noch dürfen nur so wenig Leute wie möglich hier arbeiten, immer einer im Labor und einer in Rufweite im Büro, Laborarbeit ist für mehr als eine Person aus Sicherheitsgründen nicht gestattet. Priorität haben die, die am Ende ihres Projektes stehen, da geht es auch um Bachelor- und Masterarbeiten, die haben ja nicht unendlich Zeit. Und natürlich um Doktoranden, deren Förderung ausläuft. Da kann es im Einzelfall um wissenschaftliche Karrieren gehen.

Für unser Projekt sind die Signale aus Japan ganz ermutigend. Es sieht so aus, als ob wir im Herbst doch noch den Zugang zum Teilchenbeschleuniger dort bekommen, den wir für die Messungen brauchen.

Trotzdem wissen wir nicht genau, wie wir etwa die vor uns liegenden Praktika organisieren sollen. Praktikum, das bedeutet, dass wir hier in unseren Laboren für drei Tage 150 Studenten haben, immer 50 in zwei Räumen, was angesichts der bestehenden Abstandsregeln unmöglich ist. Da müssen wir uns etwas überlegen, Schichtbetrieb vielleicht.

Denn wie gesagt, Chemie ohne Experimente, das geht nicht.

Das Paradoxe: Wir bringen uns um unseren eigenen Lohn -
Martin Schmidt-Hussinger, Reisekaufmann

Meine beiden Auszubildenden haben die ganze Zeit über einen Notbetrieb aufrechterhalten. Kunden können sie ansprechen und einen Termin mit uns ausmachen. Telefonisch geht das auch. Im Juli wollen wir wieder zwei Mal die Woche öffnen.

Zwei, drei Kunden melden sich am Tag, um eine Reise zu buchen. Es ist völlig unklar, wie ein Urlaub aussieht, wenn in einem Hotel Hygienekonzepte eingehalten werden müssen: Gibt es Zeitfenster für den Pool? Aufpasser am Buffet? Und was passiert, wenn ein in den Sommerferien bereits ausgebuchter Club nach den neuen Abstandsregeln nur zu 60 Prozent belegt sein darf? Wer fliegt raus?

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In den vergangenen Monaten bestand unsere Arbeit fast nur aus Stornierungen. Das Paradoxe ist, dass wir damit uns um unseren eigenen Lohn bringen. Denn wir Reisebüros leben von Provisionen, die nur bei Reiseantritt fällig werden. Ab Mitte März war unser Umsatz auf null abgestürzt. Ich musste drei meiner fünf Mitarbeiter in Kurzarbeit schicken.

Meine Frau – die Firma gehört uns gemeinsam – hat sich eine Halbtagsstelle bei einer Friedhofsverwaltung gesucht. Normalerweise geht in den Sommerferien ein Drittel unserer Buchungen in die Türkei. Doch für das Land gilt die Reisewarnung ja noch immer. Es wird wohl der Sommer der Wohnmobile.

Dass ich unsere Situation bedrohlicher finde, als mir bewusst ist, zeigt mir jeden Morgen mein Fitness-Armband: Meine Tiefschlafphase ist von dreieinhalb Stunden auf eine Stunde zehn Minuten geschrumpft.

Wir sind so oft es geht draußen“ -
Claudia Nickel, Erzieherin

Während die Kontaktbeschränkungen in den vergangenen Wochen mehr und mehr gelockert wurden, mussten wir uns im Kinderladen weiterhin an strikte Vorgaben halten. Es wurde in kleinen Gruppen betreut und zusätzlich gab es Bestimmungen zur Betreuungszeit für die Kinder von „systemrelevanten Eltern“ und „nichtsystemrelevanten Eltern“. Das gab teils Unmut und gegen Ende war auch für mich nicht mehr immer alles nachvollziehbar.

Dass jetzt aber alles so schnell geht, nur eine Woche Übergang bis zum Regelbetrieb, hat mich und mein Team doch etwas überrumpelt. Natürlich finde ich es pädagogisch wichtig, dass alle Kinder wieder den Kinderladen besuchen dürfen. Aber die Pandemie ist ja nicht plötzlich vorbei! Ich freue mich sehr, die Kinder bald wieder zu sehen. Aber es braucht auch Zeit, wieder in den normalen Betrieb zurückzufinden.

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Bevor die ersten vier Kinder Anfang Mai in unsere Notbetreuung kamen, haben wir Spielzeug aussortiert, alles zu desinfizieren wäre zu aufwendig. Es darf im Moment auch kein Spielzeug mitgebracht werden. Gerade was ihre Selbständigkeit angeht, wurden für die Kinder viele Dinge aus hygienischen Gründen eingeschränkt, sie dürfen sich zum Beispiel das Essen gerade nicht selbst auftun.

Wir sind so oft es geht draußen – und natürlich waschen wir noch häufiger als sonst die Hände. Eltern haben bei uns gerade keinen Zutritt, im Eingang zum Kinderladen liegt nun ein roter Teppich, an dem Begrüßung und Verabschiedung stattfinden. Wir haben den Kindern alles erklärt und sie verstehen das. Was allerdings nicht funktioniert ist weniger zu kuscheln. Aktuell musste ich entscheiden, ob ein Sommerfest gefeiert wird und ein großer Elternabend stattfindet kann. Es fiel mir schwer, aber: lieber nicht. Es ist und bleibt ein Ausnahmezustand.

„In meiner Praxis ist es aktuell wieder genauso voll wie vor der Pandemie“ -
Matthias Soyka, niedergelassener Orthopäde

Im Grunde habe ich schon wieder hochgefahren: In meiner Praxis ist es aktuell wieder genauso voll wie vor der Pandemie. Der Unterschied zu Anfang März: Wir können keine Patienten spontan dazwischenschieben, weil wir die Abstände im Wartezimmer einhalten müssen. Deswegen bekommen meine Patienten aktuell erst im Oktober einen Termin.

Meine Strategie und die meiner Praxispartner bestand darin, am Anfang deutlich herunterzufahren, um dann relativ flott wieder hochzufahren. Das war mit hohen Einbußen verbunden, weil anfangs kaum Patienten da waren, wir aber trotzdem viel zu organisieren hatten. Dadurch sanken die Personalkosten kaum und die Kosten für teure Schutzkleidung und Desinfektionsmittel kamen hinzu. Außerdem blieben die privaten Leistungen aus. Dadurch werden wir für das zweite Quartal wohl 10–20 000 Euro Verlust hinnehmen müssen.

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Neben den Abständen in den Wartezimmern fahren wir drei Strategien: Schutzkleidung, häufiges Desinfizieren und Abstand bei der Behandlung. Aktuell wende ich zum Beispiel bei Brustwirbelsäulenblockaden eine bestimmte Technik nicht an, bei der ich mich dem Gesicht des Patienten auf zehn Zentimeter nähern müsste.

Mein Eindruck ist, dass die Schmerzen die Patienten in die Praxen treibt. Ich bekomme allerdings mit, dass Patienten aus Angst vor Ansteckung etwa nicht zum Kardiologen gehen. Da versuche ich gut zuzureden, denn hinausgeschobene Vorsorge rächt sich irgendwann.

„Was das Hochfahren angeht, bin ich allerdings skeptisch“ -
Kirsten Niehuus, Geschäftsführerin Medienboard Berlin-Brandenburg

Ein großer Teil der Filmbranche stand in den vergangenen Monaten still – am 2. Juli öffnen jetzt die Kinos wieder. Was das Hochfahren angeht, bin ich allerdings skeptisch. Es gilt hier nach wie vor der Mindestabstand von 1,50 Metern, was eine Auslastung von 25 Prozent bedeutet. NRW und Österreich haben das inzwischen aufgegeben – ich finde, auch Berlin und Brandenburg sollten ihre Linie überdenken.

Ein Mindestabstand von einem Meter ergäbe schon eine Auslastung von 50 Prozent. Es muss ja auch halbwegs wirtschaftlich sein. Besonders erstaunlich und schön finde ich die Entwicklung bei den Autokinos. Die haben seit Kurzem einen großen Zulauf.

Was neue Filmproduktionen angeht, gehen die Dinge nur sehr langsam voran. Auf Berlins Straßen, wo sonst zahlreiche Dreharbeiten gleichzeitig stattfinden, wird weiterhin nur sehr wenig gefilmt. Die Anwohner*innen finden seit Monaten fast überall Parkplätze – bezüglich der Filmwirtschaft ein schlechtes Zeichen.

So leicht wie jetzt kommt man in Berlin sonst nie an Drehgenehmigungen! Aber viele Produktionen, die wegen der Pandemie pausieren mussten, bräuchten erst mal eine Ausfallversicherung. Da müsste Deutschland dem Vorbild Österreichs folgen, damit die Filmwirtschaft wieder auf die Beine kommt.

Matthias Soyka.
Matthias Soyka.

© privat

„Es verändert sich von Woche zu Woche“ -
Konstantin Kuhle, Bundestagsabgeordneter

In meinem Bundestagswahlkreis in Göttingen ist die Lage schwierig: An dem neuerlichen Infektionsgeschehen in der Stadt nimmt die ganze Region Anteil, die Stimmung ist gedrückt.

Für mich persönlich hat sich seit den ersten Lockerungen wenig geändert: Ich war vergangene Woche in meinem Wahlkreis, hatte aber kaum Präsenztermine, dafür viele Videokonferenzen. Die Bundestagsgebäude, die Flure, Gänge und Kantinen sind immer noch sehr leer.

Aber es verändert sich von Woche zu Woche: Wir haben gerade nach langer Zeit mal wieder eine Präsenzsitzung der FDP-Arbeitsgruppe für Innenpolitik gemacht: fünf Abgeordnete, dazu sieben Mitarbeiter, wir tagen im Fraktionssaal – da passen 100 Menschen rein. Auch der Innenausschuss tagt wieder. Der Ausschuss hat 37 Mitglieder und eigentlich einen eigenen Saal. Aber wir tagen nun in den Fraktionssälen der CDU/CSU oder der SPD, wo mehr als 200 Mitglieder Platz hätten.

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Vor Kurzem war ich nach langer Zeit mal wieder bei einem Präsenztermin in Südniedersachsen, beim Bauprojekt eines Museums, mit Maske und Sicherheitsabstand. Das war ein komisches Gefühl. Aber ich habe auch jetzt schon traurige Mails von älteren Leuten bekommen, bei denen politische Sitzungen oder Stammtische normalerweise dazu gehören.

Wir machen in meinem FDP-Kreisverband viele digitale Diskussionsformate. Aber die Mitglieder fragen schon: Wann sehen wir uns denn mal wieder richtig? Mit einigen verabrede ich mich zu Spaziergängen. Das kann man natürlich nicht mit allen machen, sonst geht man ja nur noch spazieren!

Das Schwerste aber ist, den Impuls zum Handschlag zu unterdrücken. Ich habe auch immer den Eindruck, dass man dazu was sagen muss: Ach, wir geben uns ja noch immer nicht die Hand! Natürlich geht das alles – aber es ist unnatürlich.

Kirsten Niehuus.
Kirsten Niehuus.

© Engels/Medienboard

„Das geht nur im direkten Kontakt“ -
Kenneth Schramm, Personal Trainer

Wir haben unser Studio in der Sophie-Charlotten-Straße zugemacht, als der Senat die Schließung aller Fitnessstudios verordnet hat. Am Dienstag durften wir wieder öffnen. In den gut zwei Monaten konnten wir natürlich kein persönliches Training anbieten – und online oder per Video-Chat wollte ich nichts anbieten. Da hätte ich nicht zu 100 Prozent dahintergestanden.

Wir haben mit Menschen zu tun, die dieses Eins-zu-eins brauchen. Unser Trainingskonzept ist, mich genau auf jeden einzustellen und genau zu sehen, wie sich jemand bewegt, was zum Beispiel die Wirbelsäule macht, dann zu korrigieren und zu motivieren. Dazu kommt die Ernährungsberatung. Das geht nur im direkten Kontakt.

In der Zeit, in der ich niemanden persönlich trainieren konnte, haben mein Kollege und ich ein neues Produkt entwickelt – es hat mit dem Fitbleiben im Alltag zu tun, mehr sage ich noch nicht. Wir wollen es über unsere Online-Plattform vertreiben und haben dafür viele Gespräche führen müssen, mit Herstellern, mit dem Zoll, mit Logistikern. Das soll zukünftig unser zweites Standbein werden.

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Finanziell hat es gerade so gereicht. Wir haben als Kleinunternehmen die 5000-Euro-Hilfe des Senats bekommen. Und wir hatten in der Zeit vorher gut gewirtschaftet. So haben wir überleben können – aber über den Sommer wären wir nicht gekommen. Natürlich habe ich selbst mich fit gehalten, Krafttraining und Cardio gemacht, wir durften unser Studio ja nutzen. Die Schließung hat Zeiträume geschaffen, die man sonst nicht hat. So habe ich mit Yoga wieder angefangen. Wenn man, wie sonst, die Termine taktet und abarbeitet, verfliegt die Zeit wie verrückt.

Mit der Wiedereröffnung sind wir wieder voll dabei. Die Werbung über Google und Instagram läuft, Stammkunden haben alle per Mail und in einem Brief ein Comeback-Angebot bekommen – das erste Training, eine Körperanalyse und ein Proteinshake sind kostenlos. Und schon ist der Kalender wie auf Knopfdruck super gefüllt!

Konstantin Kuhle.
Konstantin Kuhle.

© Monika Skolim / dpa

„In großen Hallen gibt es jetzt für verschiedene Teams verschiedene Eingänge“ -
Björn Riddermann, TDK-Personalchef

Am Eingang unseres Werks steht eine Wärmebildkamera auf einem Stativ. Die Mitarbeiter gehen seit März daran vorbei und ab einer bestimmten Körpertemperatur piepst es. Dann wird nachgemessen. Bislang gab es bei uns zwei positive Fälle, aber die Kollegen waren zu Hause. Überall herrscht Maskenpflicht. Wir kontrollieren das und ermahnen, wenn die bei einem zum fünften Mal unter dem Kinn hängt. Am Standort hier arbeiten 580 Mitarbeiter. Wir stellen Sensoren und Kondensatoren her.

In der Produktion wechseln wir uns seit Wochen ab. In der Fabrik begegnet normalerweise Schicht A Schicht B. Das haben wir komplett eingestellt. In großen Hallen gibt es jetzt für verschiedene Teams verschiedene Eingänge, Absperrungen. Die Führungskräfte managen alles per Telefon und Videokonferenzen. Wenn wieder mehr aus dem Homeoffice zurückkommen, werden wir Plexiglas zwischen die Schreibtische stellen. Man kann sich sehen, aber die Aerosole sind gestoppt.

(Von Andreas Austilat, Barbara Nolte, Katja Demirci, Nantke Garrelts, Lars von Törne, Daniel Erk, Werner van Bebber und Marie Rövekamp)

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