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Genetischer Fingerabdruck: Die DNS und die Detektive

Sherlock Holmes ermittelte noch mit der Lupe. Heute reicht ein Wattestäbchen. Der genetische Fingerabdruck revolutioniert den Kampf gegen das Böse.

Er kommt mit einem Kombi, an einem Dienstag im September. Der Mann zerrt das neunjährige Mädchen in Dresden-Hellerau in sein Auto, fährt mit ihm in ein Waldgebiet und vergewaltigt es.

Monate später schlägt der Kinderschänder wieder zu. Dieses Mal in Coswig bei Dresden, das Mädchen ist elf Jahre alt.

Viele Eltern in der Gegend haben Angst um ihre Kinder. Die Polizei steht unter Druck. Und entschließt sich zur größten DNS-Reihenuntersuchung in der deutschen Geschichte. Fast 130.000 Männer aus Dresden und Umgebung sollen ihren genetischen Fingerabdruck abgeben. Aber so weit kommt es nicht.

Am 21. Mai 2008 gibt der 32-jährige Kraftfahrer Carsten D. seine Speichelprobe ab. Sie trägt die Nummer 18758 und ist ein "Treffer", stimmt mit der bei den Opfern sichergestellten Erbinformation, der Täterspur, überein. Der Mann gesteht die Vergewaltigungen. Die Sonderkommission "Heller" kann die Ermittlungen abschließen.

Kein Verfahren war so revolutionär

Ohne den genetischen Fingerabdruck wäre der Täter vermutlich erst viel später – oder vielleicht nie – gefasst worden. Seit der Einführung des "echten" Fingerabdrucks vor gut 100 Jahren hat kein Verfahren die Kriminalistik so revolutioniert. In Deutschland ist es zehn Jahre her, dass die DNS-Analysedatei beim Bundeskriminalamt ihre Arbeit aufnahm. Sie enthält heute die genetischen Profile von rund 570.000 Personen und etwa 134.000 Spuren-Datensätze.

Dass Schwerverbrecher wie der Dresdener Vergewaltiger nicht mehr untertauchen und erneut zuschlagen können, ist das Verdienst eines einzigen Mannes: Alec Jeffreys. Der 1950 geborene Genetiker von der englischen Universität Leicester sieht ein bisschen aus wie ein keltischer Druide. Hohe Stirn, zurückweichendes schwarzes Haar, geheimnisvolle, weit auseinanderstehende Augen, dunkler, fussliger Bart.

Schlüssel zur Einzigartigkeit  des Menschen

Aber Jeffreys ist alles andere als ein Magier. Er stammt aus einer Erfinderfamilie, hat unstillbare wissenschaftliche Neugier im Blut. Als Junge experimentiert er mit Chemikalien, jagt den Apfelbaum seiner Tante in die Luft, verätzt sich bei anderer Gelegenheit das Gesicht mit Schwefelsäure.

Als junger Wissenschaftler treibt ihn ein Thema um: Jeffreys möchte den Schlüssel zur Einzigartigkeit des Menschen finden, zu seiner biologischen Individualität. Nicht dort, wo die Dichter oder Künstler das Wesen des Menschen suchen, nicht im Charakter, in der Lebensgeschichte, in Gesichtszügen. Sondern in den Molekülen.

Das ist ein kühner Gedanke in den frühen 1980er Jahren. Die einzige Möglichkeit, bis dahin Menschen biologisch von anderen zu unterscheiden, sind Blutgruppen. Sie leiten sich von filigranen Eiweißmolekülen ab, sind sehr empfindlich und nicht immer leicht zu beurteilen. Damit gelingt eine vage Klassifizierung, mehr nicht. Jeffreys sucht woanders: In der Erbinformation, chemisch als DNS gespeichert.

"Schnipsel" in der DNS

Jeffreys ist mit 27 Jahren als Nachwuchswissenschaftler an die Universität von Leicester gekommen. Langsam kreist er hier sein Ziel ein. Er konzentriert sich auf Erbgutabschnitte, die von Mensch zu Mensch stark abweichen. Liegt hier der Schlüssel der Einzigartigkeit? Jeffreys fallen kurze, nur zehn bis 100 "Buchstaben" umfassende "Schnipsel" in der DNS auf, die sich mehrfach wiederholen. Eine Art Stottern im Erbgut, wissenschaftlich als Minisatelliten bezeichnet. Ohne erkennbaren Inhalt, aber von Mensch zu Mensch unverwechselbar, Orte der Individualität. Jeffreys Neugier ist geweckt. Der Genetiker entwickelt ein Verfahren, um das biochemische Stottern sichtbar zu machen.

Es ist der 11. September 1984, ein Montagmorgen. Jeffreys schaut auf eine Testreihe mit Minisatelliten, die er mit seinem Verfahren nachgewiesen hat. Er hat unter anderem DNS seiner Labortechnikerin Jenny Foxon und ihrer Eltern getestet. Die radioaktiv markierten Erbgutabschnitte haben einen Röntgenfilm geschwärzt. Skeptisch blickt Jeffreys auf die bläuliche Folie des Röntgenbildes. Es sind ein rundes Dutzend Säulen, auf denen sich mehr oder weniger deutlich verwaschene Streifen abzeichnen. Ein Muster aus dunklen Bändern, das sich von Säule zu Säule, also von Individuum zu Individuum, unterscheidet.

"Viel zu kompliziert", denkt Jeffreys zunächst. Die Aufnahme ist verschmiert, ein Durcheinander. Es ist fünf nach neun, als der Groschen fällt. Ein Aha-Erlebnis, das die Welt verändern wird. Schlagartig wird dem Forscher klar, dass er den ersten genetischen Fingerabdruck vor sich hat. Ein einzigartiges Muster: Die getesteten Personen hatten ihre biologischen Visitenkarten hinterlassen.

"Eine politische Dimension"

Jeffreys diskutiert das Ergebnis mit seinen Mitarbeitern, sofort werden die Konsequenzen klar. Der genetische Fingerabdruck kann bei Verbrechen eingesetzt werden, um DNS-Spuren am Tatort Personen zuzuordnen, er kann Vaterschaftsfälle klären, bei der Erforschung der Artenvielfalt helfen – und, wie Jeffreys’ Frau am Abend einfällt, auch die Identität von Einwanderern klären. "Da wurde mir klar, dass meine Erfindung auch eine politische Dimension hatte", erinnert sich Jeffreys.

Der Genetiker verfeinert die Methode, Zeitungen berichten. Im Frühjahr 1985 meldet sich ein Anwalt bei dem Wissenschaftler und bittet ihn um Hilfe. Es geht tatsächlich um Einwanderung – um einen kleinen Jungen, Sohn einer aus Ghana eingewanderten Britin. Der Junge hat keinen Ausweis, die Behörden bezweifeln, dass er wirklich der Sohn der Frau ist. Sie vermuten, er ist in Wahrheit der Neffe und soll ins Land geschmuggelt werden.

Der Anwalt fragt Jeffreys, ob er helfen will, die Identität des Jungen zu klären, nachdem herkömmliche Blutgruppentests den Fall nicht klären konnten. Der genetische Fingerabdruck aber ist eindeutig: der Junge ist tatsächlich der Sohn der Frau. Er darf in Großbritannien bleiben. Jeffreys teilt das Ergebnis der Mutter des Kindes persönlich mit. „Den Ausdruck in ihren Augen werde ich nie vergessen“, sagt er. Es ist ein guter Start für das neue Verfahren. Die Wissenschaft hat einer armen Familie geholfen, sich aus bürokratischen Verstrickungen zu befreien.

Mordfall als Bewährungsprobe

Als Nächstes vereinfacht Jeffreys das Verfahren für die Rechtsmedizin. Er nennt es nun "genetisches Profil". 1986 bittet ihn die lokale Polizei um Rat. In Leicestershire sind im Abstand von drei Jahren zwei Schulmädchen vergewaltigt und ermordet worden. Die Polizei hat einen Verdächtigen verhaftet, der den zweiten, aber nicht den ersten Mord gestanden hat. Mit Spannung erwarten die Polizisten den Vergleich der bei den ermordeten Mädchen gefundenen Spermaspuren mit dem genetischen Profil des Verdächtigen. "Beweisen Sie, dass der Mann auch das andere Mädchen ermordet hat", sagen sie zu Jeffreys.

Der Test aber bringt eine handfeste Überraschung: die DNS, die bei den Mordopfern gefunden wurde, stammt von einem einzigen Täter – aber nicht von dem Verdächtigen! Der offenkundig verwirrte Mann ist unschuldig. Das genetische Profil, das macht schon dieser erste Mordfall deutlich, ist nicht nur dazu da, Schuldige zu überführen. Es kann auch zu Unrecht Beschuldigte entlasten.

Der erste Massengentest der Geschichte

Was folgt, ist der erste DNS-Massentest der Geschichte. Aus der ganzen Region werden die Männer im August 1987 gebeten, sich Blut für ein genetisches Profil abnehmen zu lassen. Ein Mann namens Colin Pitchfork überzeugt einen Arbeitskollegen, sich für ihn Blut abzapfen zu lassen, mit Hilfe eines gefälschten Personalausweises. Er selbst habe ebenfalls schon für einen Bekannten, einen Exhibitionisten, Blut abgegeben, rechtfertigt sich Pitchfork, der in einer Bäckerei arbeitet. Jetzt fürchte er, dass die Schummelei auffliege. Sein Kollege hilft ihm.

Abends, im Pub, erzählt der Mann von der Episode. Eine andere Mitarbeiterin der Bäckerei hört mit und geht zur Polizei. Pitchfork gesteht sofort. Er ist der erste Mörder, der durch seine Erbinformation überführt wird.

Winzige Spuren von DNS reichen aus

Über die Jahre wird das genetische Profil immer weiter verbessert. Ein entscheidender Schritt nach vorn ist die Verwendung der Polymerase-Kettenreaktion (PCR), eines biochemischen Schnellkopierers für Erbsubstanz. Dank dieses Verfahrens, das sich in den 1990er Jahren durchsetzt, genügen nun winzige Spuren von DNS, im Extremfall wenige Zellen, um ein genetisches Profil herzustellen. Blut, Haare, Samenflüssigkeit, Speichel, Knochen, Hautzellen – alles enthält DNS, kann zur Spur werden.

Der Kern der Untersuchung aber sind bis heute die "Stotterer" im Erbgut, die Abschnitte mit den kurzen, sich wiederholenden DNS-Silben, die ein für jeden Menschen charakteristisches Vererbungsmuster ergeben.

Die biologische Bedeutung dieser Minisatelliten ist dagegen gering. Es handelt sich nicht um kodierende Erbinformation, nicht um Bauanleitungen für Proteine, wie sie in den Genen enthalten sind. Deshalb ist der Ausdruck „Gentest“ unrichtig. Es werden eben keine Gene getestet, sondern nur ganz simple Längenunterschiede bestimmter DNS-Abschnitte.

Genetischer Fingerabdruck rettet auch Leben

Der genetische Fingerabdruck – oder genauer: das DNS-Profil – gilt heute für viele Kriminalisten als Wunderwaffe, die tausend- ja millionenfach erfolgreich gegen das Verbrechen eingesetzt wurde. Aber ein erfolgreicher "Treffer" allein, also die Zuordnung einer Spur zu einer Person, ist noch kein Beweis und reicht weder für Anklage noch Verurteilung.

Der genetische Fingerabdruck überführt nicht nur Täter, er entlastet sie auch und rettet sogar Leben. In den USA hat sich die Organisation "Innocence Project" darauf spezialisiert, die Unschuld langjährig Verurteilter mit Hilfe des Verfahrens zu belegen. Vor einem Jahr konnten die Aktivisten die 200. Freilassung feiern. Im Schnitt waren die Verurteilten bereits zwölf Jahre zu Unrecht inhaftiert, 14 von ihnen saßen in der Todeszelle. Dreiviertel der vermeintlichen Täter waren übrigens durch Aussagen von Augenzeugen in Verdacht geraten.

Das genetische Profil hilft auch, Identitäten zu klären. Die Amerikaner können den bärtigen Gefangenen aus dem Kellerversteck anhand des genetischen Fingerabdrucks bereits Stunden später eindeutig als Saddam Hussein identifizieren. Nach dem Terroranschlag auf das World Trade Center werden 20 000 Körperteile aus den Trümmern geborgen und anhand des genetischen Profils identifiziert.

Verbrechen der Vergangenenheit aufklären

Besonders bewegend ist die Aufklärung lange zurückliegender Verbrechen. Wenn Spuren archiviert worden sind, dann können sie heute, im DNS-Zeitalter, zu neuen Hinweisen führen, Licht in das Dunkel der Vergangenheit bringen. Systematisch gehen Polizisten heute Fällen wie dem Mord an einer 17-Jährigen aus Kleinmachnow nach, die 1986 vergewaltigt und umgebracht wurde. 17 Jahre später wird der Mörder gefunden.

Damit wird nicht nur der Gerechtigkeit genüge getan. Auch für Angehörige ist es oft eine ungeheure Erleichterung, wenn ein Täter endlich gestellt wird. So wie bei April Molseed, deren elfjährige Tochter Lesley 1975 ermordet wurde. 32 Jahre später wurde der Täter verurteilt. "Als das Schuldurteil gesprochen wurde, fühlte ich mich, als ob ein gigantischer Wolkenkratzer von meinen Schultern genommen wurde", sagte die Mutter. "Jetzt kann ich zu Lesleys Grab gehen und ihr die Neuigkeit erzählen. Endlich kann sie in Frieden ruhen."

Fleißigste Datensammler sitzen in Großbritannien

Die Akten schließen, manchmal nach Jahrzehnten – möglich wird das durch große DNS-Datenbanken, in denen ein genetisches Profil von Verdächtigen oder Vorbestraften hinterlegt ist, ähnlich wie beim traditionellen Fingerabdruck. Spuren werden mit den Informationen dieser Datenbanken abgeglichen. Nach Informationen des BKA wurden seit Errichtung der deutschen DNS-Datei 70.000 "Treffer" gezählt.

Die eifrigsten DNS-Sammler sitzen ausgerechnet in Großbritannien, dem Mutterland der Bürgerrechte. 4,3 Millionen Menschen sind registriert, das ist etwa jeder siebte Brite. Auch bei "harmlosen" Delikten wie alkoholisiertem Autofahrern wird ein DNS-Profil angelegt und auf 100 Jahre gespeichert. Eine Löschung ist nicht vorgesehen und sehr schwierig.

"Big Brother" und "außer Kontrolle" nennen Kritiker die DNS-Datenbank des Vereinigten Königsreichs. Sie befürchten Missbrauch und Diskriminierung und fordern, die Daten Unschuldiger zu löschen. Die Sicht der Polizei auf das Volk könne sich verändern, befürchtet Helena Kennedy, Vorsitzende der Humangenetik-Kommission. Großbritannien werde eine Nation von Verdächtigen. "In wessen Namen hat die Regierung diese orwellianische Datenbank angelegt?" fragte sich der Liberale Nick Clegg.

Die Befürworter argumentieren, dass es immer häufiger gelinge, mit Hilfe einer "Familienfahndung" Täter zu fangen. Wird jemand wegen eines banalen Vergehens registriert, etwa wegen Trunkenheit im Straßenverkehr, kann es sein, dass sein genetisches Profil teilweise mit dem übereinstimmt, was ein Täter irgendwo hinterlassen hat. Dann kann es sein, dass der Täter Familienmitglied ist.

"Verbrechen zahlt sich aus"

In Deutschland warnen Datenschützer vor einem "Dammbruch" und fürchten eine "Sammelwut" der Behörden. Dabei ist aus Sicht der Polizei klar: je mehr Daten, desto mehr "Treffer", Übereinstimmungen zwischen Spuren am Tatort und Täter. Und Behauptungen, bald könne man anhand eines genetischen Profils ein echtes Profil des Täters – Körpergröße, Haar- und Augenfarbe, Herkunft, Charakter und Krankheiten – anlegen, sind bislang Spekulation.

Der genetische Fingerabdruck hat die Kriminalistik zur exakten Wissenschaft gemacht. Das schlägt sich auch in Fernsehserien wie "CSI" nieder, die ohne coole DNS-Detektive in supermodernen Labors gar nicht möglich wären.

Alec Jeffreys, inzwischen geadelt, kann darüber nur schmunzeln. Er sitzt noch immer in seinem altertümlichen kleinen Büro an der Universität von Leicester und geht vor die Tür seines Instituts, wenn er eine selbstgedrehte Virginiazigarette rauchen will. Immerhin, von den Patenteinnahmen, die seine Hochschule aus seiner Erfindung bezogen hat, ist ein kleiner Teil auch an ihn geflossen. Sir Alec hat sich davon ein Wochenendhaus auf dem Land gekauft. "Verbrechen", sagt er, "zahlt sich aus."

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