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Wie uns die Zeiten ändern: Die Tapeten der Kanzler

1963 ließ Ludwig Erhard einen Wohnsitz für Deutschlands Regierungschefs bauen. Man kann jetzt besichtigen, wer von ihnen darin welche Spuren hinterließ

Im Juni 1969 kam Udo Jürgens, setzte sich an den Flügel und sang seinen Hit „Merci Chérie“. Eingeladen hatten den Sänger Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger und Frau Marie-Luise. Kaffee beim Kanzler – so privat, wie es bei einem deutschen Regierungschef eben geht. Fotografen waren fast immer dabei. Bei Jürgens, um der Republik zu zeigen, dass Kiesinger ein offenes Ohr für die Jugend hat. Zumindest, solange die im Anzug und frisch gekämmt auftritt. Mit den 68ern hatte der Kanzler bekanntlich weniger Glück.

Im Bonner Regierungsviertel gab es nur einen Ort, der den Rahmen für solche halb informellen, halb repräsentativen Treffen bot: der Kanzlerbungalow im Park zwischen Palais Schaumburg und Villa Hammerschmidt. Errichtet worden ist das „Wohn- und Empfangsgebäude“ – so der offizielle Name des Flachbaus mit Dienstwohnung und Repräsentationsräumen – von November 1963 bis November 1964 für Bundeskanzler Ludwig Erhard. Dort empfingen Erhard und alle Amtsnachfolger bis hin zu Gerhard Schröder Künstler, Könige und Politiker. Nun ist das Volk zu Gast. Ab Anfang Mai können Besucher in angemeldeten Gruppen oder Führungen den Kanzlerbungalow besichtigen. Es ist eine Zeitreise.

Die letzten Bewohner, Helmut und Hannelore Kohl, zogen zum 30. September 1999 aus – ein Jahr nach der verlorenen Bundestagswahl. Seither steht der Kanzlerbungalow leer. Er ist nicht zu sehen, weder von der Adenauerallee aus noch von der Rheinuferpromenade. Ein Haus aus Glas, komponiert für Aussichten, nicht für Einblicke.

Die Wand aus kugelsicherem Glas, die die Bungalowterrasse zum Rheinufer hin abschirmt, ließ Helmut Schmidt, der vierte Hausherr nach Erhard, Kiesinger und Brandt, im „Deutschen Herbst“ 1977 errichten. Ein paar Einschläge sind bis heute zu sehen: nicht aus Terroristenläufen, sondern von Steinen, die der Rasenmäher aufgewirbelt hat.

Dass der Kanzlerbungalow nach 35 Jahren Nutzung wieder so jugendfrisch aussieht wie zu Erhards Zeiten und dennoch nicht die Alltagsspuren seiner prominenten Bewohner verleugnet, verdankt sich der Sorgfalt der privaten Wüstenrot-Stiftung. Seit mehr als einem Jahrzehnt finanziert, konzipiert und überwacht die in Ludwigsburg ansässige Unternehmensstiftung die Sanierung herausragender Baudenkmäler.

Nach der Sanierung gehen die Häuser zusammen mit einem dicken Pflegehandbuch an die Eigentümer zurück. Der Potsdamer Einsteinturm, das Biblische Haus in Görlitz oder Le Corbusiers elegante Doppelvilla in der Stuttgarter Weißenhof-Siedlung gehören zu den instandgesetzten Objekten. Immer muss ihre öffentliche Nutzung gewährleistet bleiben. Und fast immer sind es Häuser, deren Revitalisierung besondere denkmalpflegerische Herausforderungen stellt.

Für den Kanzlerbungalow haben die Wüstenrot-Leute 2,2 Millionen Euro investiert: in die Sanierung und in das künftige Programm, das neben einer kleinen Dauerausstellung im Foyer auch Lesungen, Konzerte, Zeitzeugenabende bereithält. Verantwortlich dafür sind die Historiker vom benachbarten Haus der Geschichte.

Dem Besucher kommt vieles, was der Bungalow zeigt, bekannt vor. Besonders im hinteren, privaten Wohnbereich, der anders als die Repräsentationsräume nicht restauriert und kaum neu möbliert worden ist, sondern im Zustand der Ära Kohl erhalten blieb. Niedrige Decken, beigefarbene Bäder, dezent gestreifte Velourstapeten, an denen sich die Schatten abgehängter Bilder abzeichnen, dazu aberwitzige Pressglaslampen. Auch wenn sich der Privatbereich des Kanzlerbungalows um einen Innenhof mit einem winzigen Swimmingpool gruppiert, wirkt er mit 204 Quadratmetern bescheiden. Schon Mitte der 70er Jahre wohnte jeder (west-)deutsche Chefarzt luxuriöser.

Wesentlich nobler gestaltete der Münchner Architekt Sep Ruf, der den Auftrag für den Kanzlerbungalow 1963 direkt von Erhard erhalten hatte, den mit 24 Metern Seitenlänge größeren der beiden über Eck aneinandergesetzten Kuben. In ihm sind um ein Atrium herum die Repräsentationsräume untergebracht: Foyer, Arbeitszimmer des Kanzlers, Speisesaal, Wohn- und Empfangszimmer, Musik- und Fernsehzimmer. Dazu der Wirtschaftsbereich mit Küche und Schlafräumen für das Wachpersonal. Zusammen mit der Dienstwohnung des Kanzlers und drei winzigen Gästezimmern macht das insgesamt 687 Quadratmeter Nutzfläche.

Travertinböden, Einbauschränke mit goldbraunem Palisanderfurnier, Wände aus gelben Klinkern, schlanke Stahlstützen, die abgehängten Decken mit hellen Holzleisten verkleidet. Vor den wandhohen Verbundglasfenstern mit Alurahmen – in dieser Größe Anfang der 60er Jahre eine Sensation – hängen wieder Stores aus gerastertem Architektentüll, nach altem Muster in Sachsen gewebt. Auf den in Marokko nachgeknüpften Berberteppichen stehen Sofas und Sessel von Charles und Ray Eames aus der Herman-Miller-Collection. Draußen über der Terrasse verbreiten helle Markisen Ferienstimmung und Sommerfrische.

Ein Hauch von Kalifornien, eine Prise Skandinavien, so präsentieren sich die in den Ursprungszustand von 1964 zurückversetzten Räume nach der Sanierung. Sogar die motorgetriebene Trennwand funktioniert wieder, die sich wie von Geisterhand aus dem Keller hochschiebt, um den Wohnbereich vom Musikzimmer zu trennen. Professor Berthold Burkhardt, der leitende Architekt der Sanierung, verweist auf Details wie die stilechten 60er-Jahre-Lichtschalter, die ein Mitarbeiter seines Braunschweiger Architekturbüros bei Ebay ersteigert hat.

Lediglich der Kamin- und Speisesaal wurde in der Fassung von Helmut und Hannelore Kohl restauriert: mit Seidentapeten (auch an den Stahlstützen), Perserteppichen, Stilmöbeln, gerüschten Gardinen, Deckenlampen mit viel Chrom und Rauchglas. An Kunst nichts Zeitgenössisches mehr wie 1964, sondern Gemälde des Expressionisten Erich Heckel. Präziser lässt sich der Zustand der saturierten Alt-Bundesrepublik nicht ausdrücken.

Wie viel Privatgeschmack darf ein Kanzlerbungalow zeigen?

Ludwig Erhard, der seinen Architekten selbst gewählt hatte, bekam bis ins Detail, was er wollte – und kannte. Schließlich war er mit Ruf bestens befreundet, der 1908 geborene Architekt hatte dem elf Jahre älteren Politiker bereits Mitte der 50er Jahre ein Haus am Tegernsee gebaut: unmittelbar neben dem des Architekten. Beide gehören noch heute den Familien. Noch als Bundeswirtschaftsminister war Erhard 1958 Bauherr des deutschen Pavillons auf der Brüsseler Weltausstellung gewesen. Entwurf: Sep Ruf und Egon Eiermann.

Ruf, dem das Münchner Architekturmuseum 2008 eine große Ausstellung in der Pinakothek der Moderne gewidmet hat, war einer der wichtigsten Architekten Nachkriegsdeutschlands. Und doch ist er heute einer der am wenigsten bekannten.

Mit dem Kanzlerbungalow hat Ruf der jungen Bundesrepublik ein modernes Gesicht gebaut. Das gelang, 15 Jahre nach ihrer Gründung, nicht ohne Widerstand. Aber stets mit dem Blick in die deutsche Geschichte. Man wusste, was man nicht mehr wollte: die Gigantomanie von Hitlers Neuer Reichskanzlei in der Berliner Voßstraße, wo sich ausländische Besucher auf endlosen Gängen müde laufen mussten, ehe sie zum Diktator vorgelassen wurden. Arbeitszimmer groß wie Tanzsäle. Wände, dick wie Bunkermauern. Von der Bunkerfestung im Garten ganz zu schweigen.

Mit dieser Überwältigungsarchitektur grenzten sich Hitler und sein Baumeister Albert Speer von der alten Reichskanzlei in der Wilhelmstraße 77 ab. Reichskanzler Otto von Bismarck hatte das barocke Palais Schulenburg, ein kleiner zweigeschossiger Bau mit Gartenhof zur Straße, noch vor der Reichseinigung 1871 als Dienstsitz gewählt. Ein unschönes, anspruchsloses Haus, befanden Zeitgenossen. Die Räumlichkeiten einschließlich der Dienstwohnung des Reichskanzlers waren und blieben bescheiden. Der Erzpreuße Bismarck und fast alle seine Nachfolger vermieden ostentativen Luxus.

Als der auf zwei Millionen D-Mark Baukosten beschränkte Kanzlerbungalow am 12. November 1964 übergeben wurde, konnte Erhard noch stolz verkünden: „Sie lernen mich besser kennen, wenn Sie dieses Haus ansehen, als etwa wenn Sie mich eine politische Rede halten sehen.“

Die „Bild“-Zeitung hatte allerdings bereits ein halbes Jahr zuvor in Anspielung auf Erhards Maßhalte-Rhetorik die Richtung künftiger Polemiken vorgegeben: „Erhard wohnt wie ein Maulwurf (…). Der private Wohnteil ist ein Maßhalte-Bunker. Unser Kanzler wird eingemauert.“ Man warf Erhard entweder zu viel oder zu wenig Repräsentationsstreben vor. Palais Schaumbad oder Ludwigslust hieß das Haus mit Pool im Volksmund. Lu und Lulu, wie sich Ludwig und Luise Erhard im privaten Freundeskreis nannten, versuchten hier vergeblich, familiäre Ruhe einziehen zu lassen.

Ungemütlich wurde es nach Erhards Rücktritt 1966. „Ich brauche eine gewisse Behaglichkeit“, verkündete Nachfolger Kiesinger und beauftragte die Stuttgarter Innenarchitektin Herta-Maria Witzemann mit der Verhübschung. Anfang 1967 kam es zum Eklat, nachdem der greise Konrad Adenauer über den Bungalow geätzt hatte: „Ich fürchte, der brennt nicht mal, da kann kein Mensch drin wohnen (…). Ich weiß nicht, welcher Architekt den Bungalow gebaut hat, aber der verdient zehn Jahre.“

Berühmte Architektenkollegen wie Walter Gropius oder Egon Eiermann stellten sich demonstrativ hinter Sep Ruf und verglichen die Hetzkampagne sogar mit den Verunglimpfungen der Moderne während der NS-Zeit. Auch damit war weder dem Architekten noch seinem Werk gedient.

Dass der Kanzlerbungalow in den 70er Jahren doch noch in der bundesdeutschen Gegenwart ankommen konnte, sagt viel über das neue gesellschaftliche Klima im Land. Die noch für Erhard und Ruf maßgebliche Idee, dass die „Demokratie als Bauherr“ – so der Titel einer Streitschrift von 1961 – transparente, filigrane, asymmetrische Baukörper produzieren müsse, ist längst vergessen. Die westdeutsche Nachkriegsmoderne und mit ihr der Kanzlerbungalow haben sich dennoch schnell vom Test- zum Normalfall entwickelt. Häuser im „Bungalowstil“, mit Flachdach, Pool und Sonnenterrasse, wurden zum Inbegriff westdeutscher Vorortlandschaften.

Blanke Ironie scheint es, dass Willy und Rut Brandt, das „modernste“ Kanzlerpaar der Bundesrepublik, den Kanzlerbungalow als Wohnung verschmähten. Sie zogen es vor, weiter in Brandts schon als Außenminister genutzter Dienstvilla auf dem Bonner Venusberg zu leben. Besonders diffizile Gespräche in kleiner Runde wie 1973 mit dem KPdSU-Generalsekretär Leonid Breschnew fanden dennoch im Kanzlerbungalow statt. Barbara Klemms berühmtes Foto von Brandt und Breschnew entstand damals dort.

Helmut und Loki Schmidt lebten und arbeiteten acht Jahre im Kanzlerbungalow, ohne das Vorgefundene weiter zu strapazieren. In Krisenzeiten wie dem „Deutschen Herbst“ 1977 dürfte die räumliche Nähe zum Bundeskanzleramt zugleich Vorteil und Belastung gewesen sein. Das Ehepaar Kohl schließlich blieb 16 Jahre. Die Kohls hatten das Leben im Bungalow schon in Oggersheim trainiert.

Gerhard Schröder nutzte den Kanzlerbungalow nur noch für Empfänge und Gespräche. Auf die während der Ära Kohl im Garten des neuen Berliner Bundeskanzleramts geplante Kanzlervilla verzichtete er. Stattdessen richteten ihm die Kanzleramt-Architekten Axel Schultes und Charlotte Frank eine 200 Quadratmeter große Wohnung in der achten Etage ein. Nur 28 Quadratmeter davon sind wirklich privat. Aber was heißt schon privat? Kanzlergattin Doris überwarf sich mit Schultes, als sie sich einen anderen Teppich aussuchte.

Als erklärter Freund historischer Architektur und zeitgenössischer Kunst ließ sich Schröder lieber – ähnlich wie sein Vizekanzler Joschka Fischer – eine Villa in Dahlem von 1912 als offizielle Residenz herrichten. Schöner Wohnen für Kanzlers Gäste, gestaltet von der Berliner Architektin Gesine Weinmiller. Als Familienvater zog es Schröder ins Reihenhaus nach Hannover.

Inzwischen ist die Berliner Republik mitten im Leben angekommen. Angela Merkel hat der staatstragenden Halbprivatheit einer Residenz ganz entsagt. Sie wohnt weiter in ihrer Wohnung am Kupfergraben, vis-à-vis vom Pergamonmuseum. Für Fototermine und Gespräche, selbst in informeller Atmosphäre, reicht gewöhnlich das Bundeskanzleramt. Es sei denn, man zieht gleich raus in eines der märkischen Schlösser, etwa nach Neuhardenberg oder Meseberg. Dahin, wo das Land weit und schön ist.

Im Interview, das nun als Video im Arbeitszimmer des Bonner Kanzlerbungalows läuft, erklärt Altbundeskanzler Kohl übrigens brüsk: „Der Bungalow war eigentlich ein absurdes Bauwerk.“ Seine Begründung: viel zu hohe Unterhaltskosten. Zu viel Glas. Man kennt das: Schönheit darf nie nutzlos sein. Auch das ist eine sehr deutsche Debatte.

Kanzlerbungalow Bonn, Adenauerallee 139-141. Anmeldungen für Gruppen unter besucher@hdg.de. Führungen für Einzelbesucher ab 3. Mai jeweils sonntags 14 Uhr, Treffpunkt im Haus der Geschichte, Foyer, Willy-Brandt-Allee 14.

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