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Sehnsuchtsort Dorf. Hier im Bild der kleine Ort Sieversdorf im Landkreis Oder-Spree (Brandenburg).

© picture alliance / Patrick Pleul

Großstadt gegen Dorf?: Nur im Zusammenspiel wird eine humane Entwicklung möglich

Die Dorfkinder-Kampagne von Ministerin Julia Klöckner sorgte für viel Kritik. Doch sie hat einen wichtigen Nachdenkprozess angestoßen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

Wüsste man es nicht besser, könnte man vermuten, der Bundespräsident habe am Donnerstagnachmittag die Sieger des Wettbewerbs „Unser Dorf hat Zukunft“ ausgezeichnet, um der ob ihrer Dorfkinder-Kampagne durch die öffentliche Kritik arg gerupften Ministerin Julia Klöckner den Rücken zu stärken. Aber Frank-Walter Steinmeier hatte ausdrücklich keine Rede vorgesehen, und den Wettbewerb gibt es seit 1961. Bis 1997 trug er allerdings den beschaulichen Namen „Unser Dorf soll schöner werden“, und war wegen seines „Wer hat die schönsten Blumenbeete“-Rufs am Ende gering angesehen.

Julia Klöckners Dorfkinder-Kampagne hat für den Ruf des schönen Landlebens eher wenig gebracht, dazu bediente sie alle Klischees viel zu stark. Das Heile-Welt-Bild der Kampagne konterten die Kritiker mit dem Hinweis, dass die Dorfkinder von der ganzen Aktion nichts mitbekommen hätten, weil es auf dem Dorf kein Internet gibt.

Der Gießener Politikwissenschaftler Samuel Salzborn ging im Tagesspiegel ins Grundsätzliche, als er das Dorf zum Idealbild und Inbegriff der Reaktion erklärte, und zwar nicht nur der faschistischen und nationalsozialistischen. Fast schon trotzig-verzweifelt antwortete Michael Frehse, Abteilungsleiter Heimat im Bundesinnenministerium, ebenfalls in dieser Zeitung, Salzborns Kritik sei „erschreckend und irreführend“.

Sehnsuchtsort und Sündenbabel

Tatsächlich übertreibt der eine, was der andere verharmlost. Die Stadt war für den Dorfbewohner schon immer ein Sehnsuchtsort, gerade in vergangenen Zeiten. Im Mittelalter gewährleistete sie Freiheit den vom Land entwichenen Leibeigenen, für manchen Mann war sie im 19. Jahrhundert das Sündenbabel, in das man zumindest auf Zeit entweichen konnte.

Stadt war, bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, der Ort, zu dem sich jeder hingezogen fühlte, dessen Lebensstil nicht der dörflich-konformen Norm entsprach. Und Stadt war, ganz wichtig, der Ort der Bildung. Stadt war Zukunft. Und wäre die Tochter aus einem katholischen Arbeiterhaushalt auf dem Land nicht von sich aus in die Stadt gezogen, wäre ihre Enkelin heute noch das, was vor einem halben Jahrhundert für den Bildungsforscher Georg Picht völlig zutreffend der Inbegriff des Abgehängten war: fern von Bildung, Fortschritt, Aufstiegschancen.

Nun bringt es für die Erkenntnis wenig, heute noch einmal die verbalen Schlachten der Vergangenheit zu schlagen. Jede Analyse zeigt, dass die Wanderungstendenzen weltweit in die Metropolen gehen, während die ländlichen Räume menschenleer zu werden drohen. In den fünf ostdeutschen Bundesländern hat die Bevölkerungsentwicklung bis 2030 in allen Kreisen eine negative Tendenz – mit drei Ausnahmen: Die Städte Leipzig und Dresden werden wachsen, und alle Landkreise rund um Berlin.

Das Land muss eine attraktive Alternative bleiben

Nun wäre es geradezu zynisch, einer Empfehlung zu folgen, die der Ökonom Reint Gropp vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung aus Halle in die Debatte warf: dem ländlichen Raum im Osten die Fördermittel zu streichen und alles Geld in die Ballungsräume zu pumpen. Vernünftiger scheint es zu sein, den ländlichen Raum so weit zu stärken, dass er attraktive Alternative zur Stadt bleibt, oder wird.

Speziell für die Hauptstadtregion lässt sich jetzt schon nachweisen, dass es den Stadt-Land-Gegensatz nicht zwingend geben muss. Dass er sich sogar auflöst, wenn die Lebensbedingungen in der Metropole für viele Menschen immer schlechter, die im Umland hingegen interessanter werden.

Das Marktforschungsinstitut Kanter hat für die Frankfurter Sonntagszeitung die Wohnortpräferenzen von Menschen untersucht, die eine Wohnung suchen. Da zeigte sich, dass 33,5 Prozent der Männer und 34,3 Prozent der Frauen das Leben auf dem Land attraktiv finden, dass aber Frauen Kleinstädte hassen.

Und auf die Frage, wer im Zentrum einer Metropole leben möchte, sagen nur etwas über acht Prozent der Männer Ja. Aber mehr als doppelt so viele Frauen signalisieren Zustimmung. Die beruflichen Chancen für Frauen sind in einer Großstadt ungleich besser als in Kleinstädten, und Dorfleben ist nur interessant, wenn es sich in der Nähe einer Metropole abspielt.

Zusammen in die Zukunft

Es kommt eben immer darauf an: Großstädte können genauso beklemmend sein wie abgehängte Dörfer. Nur im Zusammenspiel von ländlichem Raum und Metropole wird in den nächsten Jahrzehnten eine humane Entwicklung möglich sein. Wenn also Julia Klöckners Kampagne überhaupt ein sinnvolles Ergebnis hatte, dann ist es der Nachdenkprozess, den sie auslöste. Uns alle aufs Dorf treiben wird er aber mit Sicherheit genauso wenig wie in die Stadt.

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