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Heinz Hilgers ist ein deutscher Politiker. Er war von 1985 bis 1994 Abgeordneter des Landtages von Nordrhein-Westfalen und von 1989 bis 1999 sowie von 2004 bis 2009 Bürgermeister der Stadt Dormagen. Seit 1993 ist er Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes. Fotografiert am 11. Mai 2023 in Berlin.

© Mario Heller/Tagesspiegel

Heinz Hilgers leitete 30 Jahre den Kinderschutzbund: „Mir sind aus jüngster Zeit Fälle bekannt, bei denen es in Kitas einen ,Schimpfstuhl’ gab“

Das Wahlalter sollte auf 14 Jahre gesenkt werden, sagt Heinz Hilgers. Über Gewalt unter Jugendlichen, Kinderrechte im Grundgesetz – und Beschneidung von Jungs.

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Herr Hilgers, Sie waren 30 Jahren lang als Präsident des Kinderschutzbundes Obmann für die Kinder und Jugendlichen in Deutschland. Geht es Kindern heute besser oder schlechter als zu Beginn Ihrer Amtszeit?
Besser, jedenfalls im Durchschnitt. Man muss sich nur mal vor Augen führen: Eltern durften ihre Kinder damals noch schlagen. Anfang der 90er gab es das sogenannte Gartenschlauch-Urteil des Bundesgerichtshofs: Ein Vater hatte seine achtjährige Tochter mehrfach mit einem Gartenschlauch so sehr geschlagen, dass sie Striemen auf dem Rücken hatte. Und das, weil sie seine Brille kaputt gemacht hatte. Das höchste deutsche Gericht hat den Vater damals freigesprochen.

Die Urteilsbegründung lautete, dass Eltern ihre Kinder „maßvoll körperlich züchtigen“ dürften, was das Schlagen mit einem „stockähnlichen Gegenstand“ einschließe. Das klingt fast mittelalterlich.
Erst 2001 haben wir erreicht, dass das Recht auf gewaltfreie Erziehung im Bürgerlichen Gesetzbuch festgeschrieben wurde – nach 21 Jahren Kampf. Ein Großteil der Abgeordneten von CDU und CSU haben damals die Meinung vertreten, dass sich der Staat nicht in familiäre Angelegenheiten einmischen solle.

Wie weit ist die Gesellschaft auf dem Weg zu gewaltfreier Erziehung gekommen?
Es hat sich viel getan. Leider zeigen Studien, dass die Entwicklung seit fünf, sechs Jahren stagniert. Immer noch hält ein Drittel der Erziehenden einen Klaps auf den Hintern für vertretbar. Auch die Gewaltkriminalität unter Jugendlichen ist in den vergangenen zwanzig Jahren deutlich zurückgegangen. Das hat viel damit zu tun, dass viel mehr Kinder gewaltfrei erzogen werden.

Vergangenes Jahr wurde gegen mehr als 40.000 14- bis 17-Jährige wegen Körperverletzungsdelikten ermittelt. Demnach ist die Zahl wieder angestiegen.
Auf niedrigem Niveau. Ich wäre noch vorsichtig, von einer echten Entwicklung zu sprechen.

Als neue Dimension von Kindergewalt wurde der Fall in Freudenberg oft bezeichnet, bei dem die 12-jährige Luise von einer 12- und einer 13-jährigen Mitschülerin getötet wurde.
Solche schweren Gewalttaten gibt es nur ganz wenige im Jahr: unter 20. Die Zahlen sind zu klein, um daran eine Tendenz festzumachen.

Einige Politiker forderten nach der Tat, die Altersgrenze für die Strafmündigkeit zu senken. Was halten Sie davon?
Das ist eine Scheindebatte. Wir haben ein breites Instrumentarium, um Kindern zu helfen, die zu Gewalttätern geworden sind. Wichtig ist, dieses Instrumentarium zu stärken. Und wir müssen als Nächstes das Problem der psychischen Gewalt gegen Kinder angehen.

Was verstehen Sie darunter?
Anschreien, Niedermachen, Eltern, die sagen: Aus dir wird nie was. Mobbing in allen Formen und emotionale Erpressung. Übrigens ist psychische Gewalt auch in Kitas ein Problem.

Eine Umfrage des Bayerischen Rundfunks unter 76 Aufsichtsbehörden von Kindertagesstätten ergab, dass mehr Fälle von seelischer und körperlicher Gewalt gemeldet werden.
Wir wissen nicht, ob die Zahlen steigen oder ob die Sensibilität für das Thema wächst. Letzteres wäre eine gute Nachricht. Es bräuchte dringend repräsentative Studien dazu. Mir sind in jüngster Zeit drei Fälle bekannt geworden, in denen es einen sogenannten Schimpfstuhl gab. Da wird ein Kind, das sich angeblich schlecht benommen hat, am nächsten Tag in die Mitte eines Kreises gesetzt, und die anderen Kinder dürfen es ausschimpfen. Das ist wie ein mittelalterlicher Pranger. In solchen Debatten kommt manchmal die Entschuldigung, die Arbeitsbedingungen von Erziehern und Erzieherinnen seien nun einmal schwierig wegen des Fachkräftemangels. Aber das ist keine Frage von Fachkräftemangel, sondern eine Frage der Haltung.

Wer überwacht die Erziehenden?
Wer überwacht die Erziehenden?

© dpa/Christophe Gateau

Hat psychische Gewalt in der Familie vielleicht etwas damit zu tun, dass Eltern unter hohem Druck stehen?
Das glaube ich nicht. Als ich ins Berufsleben startete, haben Eltern 45 Stunden in der Woche gearbeitet – oft auch samstags. Es ist nicht alles schlechter und stressiger als früher. Zwei Drittel der Kinder geht es besser als jeder anderen Generation zuvor in Deutschland. Sie haben liebevolle Eltern, sie kommen in Schule und Kita zurecht. Aber leider gibt es ein Drittel, für die das nicht gilt.

Der unbändige Freiheitsdrang der FDP setzt schlagartig aus, wenn es um Arme geht.

Heinz Hilgers

Zwanzig Prozent der Kinder und Jugendlichen gelten als von Armut bedroht. Ein Wert, der seit Jahren konstant hoch bleibt. Wie beobachten Sie das Ringen von Familienministerin Lisa Paus und Finanzminister Christian Lindner um die Kindergrundsicherung?
Der unbändige Freiheitsdrang der FDP setzt schlagartig aus, wenn es um Arme geht. Die sollen ganz genau Rechenschaft darüber ablegen, wofür sie ihr Geld ausgeben. Da ist dann nichts mehr mit Steuererklärung auf dem Bierdeckel und schlankem Staat, sondern da wird kontrolliert bis zum letzten Cent.

Oft heißt es, mehr Geld für arme Familien käme nicht bei den Kindern an.
Das ist ein Mythos. Übrigens beziehen viele Familien Bürgergeld, in denen die Eltern arbeiten und das Einkommen trotzdem nicht reicht. Ein Single kann mit zwölf Euro Mindestlohn auskommen. Aber pro Kind müssten drei Euro hinzukommen. Nun wird kein Arbeitgeber beispielsweise einem Taxifahrer 21 Euro zahlen, nur weil der drei Kinder hat. Der Arbeitsmarkt wird das Problem der Kinderarmut also nicht lösen. Wir brauchen einen gerechten Familienlastenausgleich. Für die Bildung eines Kleinkinds sind im Bürgergeld 1,72 Euro pro Monat vorgesehen. Jeder kann sich überlegen, wie viele Kinderbücher man sich davon kaufen kann.

Bundesfamilienministerin Lisa Paus.
Bundesfamilienministerin Lisa Paus.

© Leon Kuegeler/BMFSFJ/photothek.de

Mehr Geld für arme Familien müsste gegenfinanziert werden.
Das geht sogar innerhalb des Systems der Familienförderung. Allein zehn Milliarden Euro ließen sich aufbringen, wenn man die Vorteile des Ehegattensplittings für sehr gut Verdienende abschmilzt. Und es muss Schluss sein damit, dass gut Situierte über den Steuerfreibetrag am Ende mehr Geld bekommen als alle anderen über das Kindergeld.

Lisa Paus von den Grünen führt die Auseinandersetzung weitgehend ohne Unterstützung der SPD. Sind Sie enttäuscht von Ihrer Partei?
Ich bin seit mehr als 52 Jahren Mitglied in der SPD, und ich bin enttäuscht, dass wir das Thema Kindergrundsicherung an die Grünen abgegeben haben. In der SPD engagiert sich nur die zweite und dritte Reihe. Herr Scholz sollte deutlich machen, dass er für eine echte Kindergrundsicherung ist. Ich fürchte, wenn das so weiter geht, kommt am Ende nur Etikettenschwindel heraus. Das heißt, dass nur Leistungen, die es bereits gibt, darin zusammengefasst werden.

Das ist unfassbar. Niemand anders außer Kindern wird so behandelt.

Heinz Hilgers

Sind Sie eigentlich in der Politik mit Ihren Anliegen in der Regel auf offene Ohren gestoßen?
Man muss Geduld haben. Die Interessen von Kindern spielen im politischen Alltag leider keine große Rolle. In der vergangenen Legislaturperiode gab es den Plan, Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen. Am Ende kam es nicht dazu. Der Gesetzentwurf, der zur Debatte stand, hätte sogar die Möglichkeit eröffnet, das Recht von Kindern auf rechtliches Gehör einzuschränken. Das ist unfassbar. Niemand anders außer Kindern wird so behandelt.

Sie meinen, dass Kinder in Sorgerechtsfragen gehört werden …
… nein, in Strafprozessen. Es sind nicht nur Einzelfälle, in denen Richter oder Staatsanwälte sagen: Dieses Kind kann noch nicht aussagen, das hören wir nicht an – wie zum Beispiel beim furchtbaren Missbrauchsfall in Staufen. Da ist ein Junge über Jahre hinweg immer wieder auf grausamste Art vergewaltigt und an fremde Täter vermittelt worden, von der eigenen Mutter und deren Lebensgefährten. Es gab mehrere Prozesse. In keinem dieser Prozesse ist jemals das Kind angehört worden, bis hin zum Oberlandesgericht.

Es geht da vor allem um ein Schutzbedürfnis, oder?
Nicht nur. Kindern gegenüber herrscht immer noch die Auffassung, sie könnten die Dinge nicht beurteilen. So wird ja auch das Mindestalter bei Wahlen begründet.

Schüler:innen-Demo in Rheinland-Pfalz.
Schüler:innen-Demo in Rheinland-Pfalz.

© dpa/Sebastian Gollnow

Wenn Kinder wählen dürften, müsste sich der politische Diskurs ändern. So wie er jetzt geführt wird, ist er für Kinder nicht interessant.
Für Erwachsene auch nicht. Ich finde, dass das Mindestalter für Wahlen schrittweise auf 14 Jahre heruntergesetzt werden sollte. Es ist demokratietheoretisch einfach unsinnig, einem Menschen zu sagen: Weil du noch nicht genug weißt, darfst du nicht wählen. Das trifft auch auf manche Erwachsene zu, und die dürfen trotzdem wählen. Es gibt nach oben hin auch keine Altersgrenze. Zum Beispiel dürfen auch Demenzkranke wählen. Das ist richtig so, und zwar aus Respekt vor den Bürgerrechten. Diesen Respekt sollten wir aber auch Kindern entgegenbringen. Auch abseits von Wahlen sollte man Kinder viel öfter bei Themen fragen, die sie betreffen.

Sollte eine Gesellschaft, die die Rechte von Kindern immer ernster nimmt, das Thema der Beschneidung aus religiösen Gründen neu debattieren?
Religionsgeschichtlich war die Beschneidung eine Ersatzhandlung, um nicht mehr das Leben des Erstgeborenen opfern zu müssen, wie es in der Bibel vorgeschrieben war. Ich glaube, dass diese Debatte tatsächlich noch einmal geführt wird. Ich beobachte sowohl im Islam als auch im Judentum progressive Bewegungen und eine Suche nach neuen Ritualen. Diese Bewegungen brauchen Ermutigung.

Halten Sie Beschneidung aus religiösen Gründen im Sinne des Kindeswohls für vertretbar?
Die WHO empfiehlt die Beschneidung aus medizinischen und hygienischen Gründen. Aber wir leben in einer Gesellschaft, in der man solche Erfolge auch durch Waschen erzielen kann. Für mich überwiegt das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit.

Was hat sich für Kinder in den vergangenen 30 Jahren verschlechtert?
Da denke ich zuerst an das, was im Netz passiert. Die Zahlen von sexueller Gewalt unter Kindern und Jugendlichen steigen. Das hat damit zu tun, was sie alles unkommentiert und unbegleitet sehen, weil wir Erwachsenen meinen, wir müssten uns im Netz alles ansehen können. Die Zahl negativer Vorbilder hat durch das Netz massiv zugenommen.

Dringen Eltern bei den vielen Influencern überhaupt noch zu ihren Kindern durch?
Die beste Chance ist, durch das gute Beispiel und die Haltung, die man hat, die Kinder zu beeinflussen. Kinder müssen wissen, dass sie ihren Eltern vertrauen können und dass es nie zu spät ist, bei Problemen um Hilfe zu bitten.

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