zum Hauptinhalt
Weltreisender. Alle Menschen sind Entdecker, glaubt Kagge. Er rät, stets den schwierigen Weg zu nehmen.

© Jonas Bendiksen Agentur Focus Insel Verlag

Interview mit Erling Kagge: "Man muss sich seine eigene Stille schaffen"

Als der Abenteurer Erling Kagge gen Südpol aufbrach, hatte er zum Schmökern das Neue Testament im Gepäck. Der norwegische Bestsellerautor über seine Rückzugsorte, Selbsthypnose und die großen Talente von Legasthenikern.

Herr Kagge, Sie sind zum Nordpol, zum Südpol und zum Mount Everest gelaufen. Können Sie überhaupt still sitzen?

Ja! Und zwar gerne. Aber in Norwegen wird man dazu erzogen, erst mal einen langen Waldspaziergang zu machen, danach die Skier anzuschnallen und dann nach Hause zu gehen und die Ruhe zu genießen. Das habe ich jetzt am Wochenende wieder gemacht. Ich verbringe viel Zeit in den Bergen. Manchmal übernachte ich auch auf der Hütte. Dann wandere ich, esse, lege mich hin, tu nichts. Nicht mal lesen. Ich liege einfach da, schlafe ein bisschen, wache auf, lege mich wieder hin. So leere ich nicht nur meinen Kopf, sondern den ganzen Körper. Ein befreundeter Psychologe hat mir beigebracht, mich selbst zu hypnotisieren. Das fühlt sich an, als würde ich knapp über dem Bett schweben.

Schlafen Sie nicht einfach ein?

Nein. Ich mache das oft nach dem Abendessen. 20 Minuten später stehe ich voller Energie wieder auf, kann noch mal arbeiten, lesen und gehe um elf ins Bett.

Und stehen um fünf wieder auf, um Ihr Pensum als Verleger, Autor, Vater, Abenteurer, Sammler und Jurist zu schaffen?

Nein, ich schlafe so viel wie möglich, ich schlafe gerne. Mindestens sieben, siebeneinhalb Stunden. Noch besser: acht.

Gerade haben Sie einen Bestseller über Stille geschrieben. Sie leben in einem großen, dünn besiedelten Land. Warum sind Sie nicht einfach in eine abgelegene Gegend Norwegens gegangen, um Stille zu erleben, statt zum Nordpol und Südpol?

Das war nicht der Grund, dort hinzulaufen. Da ging es darum, anzukommen. Und auf den Mount Everest wollte ich danach, 1994, um der Erste zu sein, der alle drei Extreme geschafft hat. Am Südpol war es Teil des Projekts, keinen Funkkontakt zu haben, überhaupt keine Hilfe. Im Laufe der Zeit wurde es immer mehr eine Expedition in mein Inneres und nicht zum geografischen Pol. Die Zeit, die ich mit mir in der Stille verbrachte, war am Ende das Größte.

In Ihrer Heimatstadt Oslo geht’s eher laut zu, oder?

Schön, wenn es um einen herum ruhig ist, nur: Einen total stillen Ort zu finden, ist unmöglich. Man muss sich seine eigene Stille schaffen, kann nicht darauf warten, dass es leise wird. Am besten stellt man als Erstes die elektronischen Geräte aus. Das Gegenteil von Stille sind ja nicht nur Geräusche, sondern Ablenkungen, Erwartungen von anderen, auch optischer Lärm.

Augen kann man jederzeit schließen, Ohren nicht.

Man muss auch nicht alles hören. Ich lebe in der Nähe einer S-Bahn, Besucher fragen mich oft, ob mich das nicht nervt. Nein. Wenn da keine S-Bahn gewesen wäre, wäre das Haus teurer gewesen, und ich hätte es mir nicht leisten können. Ich höre das Geräusch einfach nicht.

Reiche können im grünen Stadtviertel wohnen, haben ein eigenes Büro. Ist Ruhe nicht letztlich eine Klassenfrage?

Das ist etwas, was mich bei der Recherche selbst überrascht hat, darüber hatte ich vorher gar nicht nachgedacht. Auf dem Weg hierher kam ich an Straßenbauarbeitern vorbei. Auch wenn sie Ohrschützer tragen, müssen sie eine Menge ungesunden Krach aushalten. Viele schlecht bezahlte Jobs sind laut, während die gut bezahlten zumindest akustisch friedlicher sind.

Und wo ist es leiser, am Nord- oder Südpol?

Am Nordpol ist es lauter, weil das Eis sich bewegt, auseinanderbricht, sich wieder zusammen- und übereinanderschiebt – wie auf dem berühmten Gemälde von Caspar David Friedrich, „Das Eismeer“, das ist ziemlich realistisch. Dann machst du selber Krach, wenn du auf die Eiskämme steigst. Aber insgesamt ist es dort sehr still.

Und welche der beiden Touren war härter?

Auch wieder der Nordpol. Dort ist es viel kälter, und das Eis bewegt sich. Man muss extrem aufpassen.

"Viele Unternehmensgründer sind Legastheniker"

Pionier. Kagge war 1993 der erste Mensch, der allein den Südpol erreichte.
Pionier. Kagge war 1993 der erste Mensch, der allein den Südpol erreichte.

© picture-alliance / dpa

Sie waren mit einem Freund unterwegs. Worüber haben Sie gesprochen?

Wir haben kaum geredet. Beim Gehen ist das nicht so einfach. Es gibt auch nicht viel zu sagen. Du hörst auf zu denken. Was an sich schon sehr interessant ist. Es geht darum, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Unser Ziel war, den Pol zu erreichen. Dafür habe ich alle Energie gebraucht. Und dafür, nicht zu stark zu frieren.

Gab es auch etwas, was Ihnen Spaß gemacht hat beim Aufstieg auf den Mount Everest?

Ich fand es toll! Nur an den Kopfschmerzen hatte ich keinen Spaß. Ich hatte vorher schon meine ganze Freizeit in den Bergen verbracht, der Everest war nur ein kleiner Teil des großen Ganzen. Ich fand den Aufstieg hart, aber interessant. Trotzdem muss ich nicht noch mal in die ganz hohen Berge.

Die meisten sagen, dass die Aussicht nicht das Schönste auf dem Mount Everest ist – man läuft ja so schnell wie möglich wieder runter.

Ich war anderthalb Stunden auf der Spitze. Zu lang. Man geht die letzten Meter nicht hoch, um die Landschaft zu genießen. Die Aussicht vom Nachbarberg ist eh viel schöner: weil man auf den Everest guckt. Ich war insgesamt sechs, sieben Wochen dort und hatte fantastische Kletter- und Wanderetappen unterhalb des Gipfels. Aber die letzten drei, vier Tage geht es wirklich nur noch darum, hochzukommen.

Ihren Lesern raten Sie, ihre Angst zu ignorieren. Kennen Sie selber keine?

In meinem Leben gibt es sie kaum. Sorgen: ja. Wenn man viele Angestellte hat, wie ich als Verleger, macht man sich immer Sorgen. Wenn man eine Familie hat, macht man sich Sorgen. Aber das ist was anderes.

Sie haben Jura studiert. Wie sind Sie ausgerechnet als Legastheniker darauf gekommen, Autor und Verleger zu werden?

Ich war zehn, bis ich richtig lesen und schreiben konnte, eine Logopädin hat mir das beigebracht. Das Gute an der Legasthenie ist: Du merkst, was der Lehrer sagt, funktioniert für dich nicht. So verlierst du früh den Respekt vor Autoritäten. Und du begreifst, wenn alle anderen ein Problem auf eine Weise lösen, musst du es ein bisschen anders machen. Das ist gesund. Viele Unternehmensgründer sind Legastheniker.

Haben Sie sich auf Ihre Expeditionen Lektüre mitgenommen?

Beim Südpol hatte ich das Neue Testament dabei, Oscar Wilde, Hermann Hesse, lauter alte Bekannte. Ich dachte, dass ich nach acht, zehn Stunden Wandern durchs Eis so müde wäre, dass ich besser was Vertrautes lese.

Was hat Sie am Neuen Testament gereizt?

Auf einer solchen Expedition braucht man so viele Worte und Gedanken pro Gramm wie möglich. Das Neue Testament hatte mir meine Großmutter mal in einer superleichten Dünndruckausgabe geschenkt. Es war gut für den Kopf. Und unterhaltsam.

Ganz allein zu Fuß durchs Eis zu laufen, war das ein spirituelles Erlebnis?

So könnte man es nennen. In der westlichen Welt trennen wir ja Körper und Spiritualität, als wären sie komplette Gegensätze. Aber wenn man tagelang, wochenlang durch die Natur läuft, wird man eins mit ihr. Dein Körper hört nicht an den Fingerspitzen auf. Man ist näher dran an allem, was nichtmenschlich ist. In der Schule wurde uns beigebracht, dass es eine strenge Grenze gibt zwischen Mensch und Natur. Wir stellen den Menschen immer ins Zentrum und alles andere drumherum. Das ist ziemlich dumm.

Weihnachten 1992 haben Sie am Südpol verbracht. Ein Tag wie jeder andere?

Ich hatte mir einen Schokokuchen mitgenommen und geschenkt. Das war was ganz Besonderes. Ansonsten habe ich ja wochenlang von Trockenfutter gelebt.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false