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Julia Seip bekam am 5.12.2018 die Diagnose ME/CFS.

© Sven Darmer

Chronisches Fatigue Syndrom CFS: „Wie eine nicht enden wollende Grippe“

Julia Seip wird oft krank. Dann stellt sich heraus, dass sie an ME/CFS leidet. Die Krankheit ist kaum erforscht – und die Kranken sind auf sich allein gestellt.

Sechs Uhr morgens, der Wecker klingelt. Sie wachen auf. Es war eine unruhige Nacht. Sie haben oft wachgelegen und nur schwer wieder in den Schlaf gefunden. Sie fühlen sich wie gerädert. Sie stehen auf, wollen ins Badezimmer – duschen, Zähneputzen. Doch Ihr Körper ist bereits jetzt schon am Ende und Sie wollen am liebsten direkt wieder ins Bett gehen.

Dieses Gefühl kennt sicherlich jeder, der schon einmal eine Grippe gehabt hat. Aber jetzt stellen Sie sich vor, Sie haben dieses Gefühl jeden Tag. Und dieses Gefühl wird zudem begleitet durch ständige Schmerzen, völlige Erschöpfung und einen benebelten Kopf. Tag für Tag.

Julia Seip kennt dieses Gefühl. Im Winter 2008 erkrankt sie mehrfach an grippalen Infekten: „Ich habe mich den ganzen Winter total schlecht gefühlt und hatte zwischen den Infekten auch immer das Gefühl, dass ich dauerhaft krank bin.“

Sie ist 28 Jahre alt, als diese – wie sie es selbst nennt – „gesundheitliche Pechsträhne“ sie von Oktober 2008 bis März 2009 aus der Bahn wirft. Zehn Jahre später, im Dezember 2018, bekommt sie im Alter von 38 Jahren an der Berliner Charité die Diagnose ME/CFS. Julia Seip leidet am Chronischen Fatigue Syndrom.

„Eine nicht enden wollende Grippe“

Professor Carmen Scheibenbogen leitet das Charité Fatigue Centrum in Berlin. Die Medizinerin beschreibt CFS als „eine eigenständige, komplexe und chronische Erkrankung“. Meist komme es nach einer Infektion zu einer schweren krankhaften Erschöpfung, die Fatigue genannt werde und stets mit Schmerzen, schweren Konzentrationsstörungen und vielen weiteren Beschwerden einhergehe.

Aufgrund neurokognitiver Symptome wie Gedächtnis- und Sprachproblemen werde im Englischen meist der Begriff myalgische Enzephalomyelitis (ME) verwendet, inzwischen finde sich daher oft auch die Bezeichnung CFS/ME, erklärt Scheibenbogen.

Julia Seip beschreibt ihre Krankheit als eine „nicht enden wollende Grippe“. Ob ihre Erkrankungen im Winter 2008 und den Folgejahren schon Vorzeichen waren, sei medizinisch nicht zu belegen und reine Spekulation.

Julia erinnert sich jedoch, dass sich ihr körperlicher Zustand damals genauso anfühlte wie zu der Zeit, als bei ihr ME/CFS diagnostiziert wurde.

Julia Seip leidet unter dem Chronischen Fatigue Syndrom, kurz CFS.
Julia Seip leidet unter dem Chronischen Fatigue Syndrom, kurz CFS.

© privat

In den Folgejahren geht es ihr ganz gut. Sie geht weiterhin arbeiten, bringt 2013 ihren Sohn zur Welt. 

Anfang 2017 entscheidet sie sich für einen Jobwechsel – eine Fehlentscheidung, wie sich schnell herausstellt. „Ich habe über mein Limit hinaus gearbeitet und es war einfach zu stressig“, gesteht sich Julia heute ein. Im Winter 2017 erkrankt sie wieder mehrfach, bekommt ständig Erkältungen.

Ratlosigkeit oder falsche Diagnosen

Sebastian Musch, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS, beschreibt das Gefühl der Patienten, bei denen die Krankheit zu spät diagnostiziert wird. „Die Betroffenen sind meist doppelt belastet: Da ist einmal die Krankheit selbst, die ihnen praktisch alle Lebensqualität raubt. Und wenn sie zu Ärzten gehen, begegnet man ihnen mit Ratlosigkeit oder man diagnostiziert sie fälschlich als depressiv oder bezichtigt sie, sich ihre Krankheit einzubilden“, sagt Musch. Die meisten Betroffenen, schätzungsweise 90 Prozent, hätten keine oder eine falsche Diagnose.

Als Berlin Ende Januar 2018 von einer Grippewelle überrannt wird, erwischt es auch Julia Seip blitzartig. Sie sorgt dafür, dass ihr Sohn bei der Oma unterkommt. „Ich lag von Samstag bis Freitag dauerhaft mit 41 Grad Fieber im Bett.“

Nach zweiwöchiger Krankschreibung ist Julia noch immer nicht wieder fit. Sie schleppt sich „von Arzt zu Arzt und von Krankenhaus zu Krankenhaus“. Die Ärzte sind ratlos. Untersuchungen bringen keine Erklärung für Julias Unwohlsein.

Drei Monate später bekommt sie im Mai 2018 wegen nachlassender Leistungen die Kündigung von ihrem Arbeitgeber. „Ich konnte mich gar nicht mehr konzentrieren, habe ständig alles vergessen, ständig Flüchtigkeitsfehler gemacht und konnte mir das auch selber nicht erklären“, sagt Julia. „Ich war immer total gut in meinem Job, aber in dieser Firma schien einfach nichts zu laufen, was ich angepackt habe.“

Medizinerin Scheibenbogen bestätigt diese typischen Symptome bei ME/CFS. Neben schweren Konzentrationsstörungen würden viele Patienten unter Kreislaufstörungen, einem Reizdarm sowie unter Atembeschwerden und Temperaturempfindlichkeit leiden. Charakteristisch für die Erkrankung sei eine oft erst Stunden später oder am Folgetag einer Anstrengung auftretende Verschlechterung, die sogenannte postexertionelle Fatigue oder Malaise, die tage- oder manchmal sogar wochenlang anhalten könne. „Diese kann oft schon durch kleine Anstrengungen ausgelöst werden“, sagt Scheibenbogen.

Julia Seip (links im Bild) bei einem ihrer zahlreichen Krankenhausaufenthalte in 2019.
Julia Seip (links im Bild) bei einem ihrer zahlreichen Krankenhausaufenthalte in 2019.

© privat

Der Körper ist nur noch eine leblose Hülle

Julia Seip trifft im Sommer 2018 eine Entscheidung: Sie will die Arbeitslosigkeit nutzen, um wieder gesund zu werden. Doch der Plan geht nicht auf. „Mir ging es immer schlechter. Ich bin morgens fast gar nicht mehr aus dem Bett gekommen.“

Julias Körper gleicht einer leblosen Hülle, sie fühlt sich, als sei sie „komplett blutleer“.

„Ich bin morgens mit dem Auto losgefahren, habe meinen Sohn am Kindergarten abgegeben und habe mich danach ins Auto gesetzt und erst einmal eine Stunde die Augen zugemacht, bevor ich überhaupt zurückfahren konnte“, erinnert sich Julia.

Die junge Mutter verliert mehr und mehr an Gewicht, leidet unter Magenkrämpfen und kann kaum noch essen. Sie ist ratlos und verzweifelt, ebenso wie ihr Umfeld. Die Ärzte vermuten, es sei alles psychosomatisch, ihre eigene Familie hält sie für paranoid.

„Niemand glaubt den Betroffenen“

„Statt angemessen versorgt zu werden, müssen sich ME/CFS-Betroffene auf einmal für ihre Erkrankung rechtfertigen“, bestätigt auch Sebastian Musch. Nicht selten wendeten sich auch Angehörige, die häufig die häusliche Pflege übernehmen, nach einiger Zeit ab. „Die Betroffen sind schwer krank, niemand glaubt ihnen und am Schluss sie sind auf sich allein gestellt. Das mündet für viele in eine existenzielle Krise“, sagt Musch.

Neben den klassischen Grippesymptomen leidet Julia Seip auch unter den neurologischen. Ihr Körper reagiert mit Schmerzen auf Sinnesreize wie Licht, Geräusche oder Berührung. ME/CFS habe nichts mit Müdigkeit zu tun, sagt Julia. „Im Gegenteil: Man kämpft mit schweren Schlafstörungen und Schlaf ist nicht mehr erholsam. Wenn ME, wie in meinem Fall, eine gewisse Schwere erreicht, bedeutet das, dass man die meiste Zeit des Tages im Bett verbringen muss.“

Der Film „Unrest“ bringt Julia Gewissheit

Im Oktober 2018 recherchiert Julia Seip im Internet. Sie erinnert sich an einen Krankenhausaufenthalt, bei dem sie auf das Epstein-Barr-Virus untersucht wurde. Sie stößt auf einen Artikel, in dem beschrieben wird, dass dieses Virus bei einer Betroffenen die Krankheit ME/CFS ausgelöst hat. Zudem entdeckt sie den Dokumentarfilm ”Unrest“, der den Krankheitsverlauf der ME/CFS-Patientin Jennifer Brea schildert.

Der Film bringt für Julia Gewissheit: „Das war der Schlüsselmoment, in dem mir bewusst wurde: Ich habe das! Ich habe ME/CFS, ich bin mir zu hundert Prozent sicher!“

Sie berichtet ihrem Hausarzt von ihrer Recherche; dieser überweist sie an die Berliner Charité. Am 5. Dezember 2018 erhält Julia Seip im Fatigue Centrum der Charité tatsächlich die Diagnose: ME/CFS.

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Scheibenbogen wünscht sich Anerkennung des Problems

Nun, ein knappes Jahr später, wird die Krankheit der heute 39-Jährigen noch immer nicht therapiert – es werden lediglich Symptome behandelt. Die Erkrankung gilt bis heute als unerforscht.

Medizinerin Scheibenbogen vom Charité Fatigue Centrum wünscht sich für die Forschung, dass „alle Akteure des Gesundheitswesens das Problem anerkennen, Richtlinien durch eine Expertenkommission erarbeitet und Versorgungsstrukturen in der Kranken- und Rentenversicherung aufgebaut werden“. Zudem sei es dringend nötig, Forschungsgelder für öffentliche Einrichtungen bereit zu stellen und die pharmazeutische Industrie einzubinden.

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