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1995: Steffi Graf und Günther Jauch in "stern TV"

© RTL

30 Jahre „stern TV“: Politik, Werbung, Action, Entsetzen

Ein Magazin auf RTL, das ebenso weitsichtig wie anstrengend, lehrreich und brachial ist: „stern TV“ wird 30. Eine Würdigung.

Die Welt, wie sie ist, ist komplizierter, als sie gemeinhin wahrgenommen wird, besser: wahrgenommen werden möchte. RTL zum Beispiel kann man abseits der Abendnachrichten über Tage hinweg praktisch 24 Stunden durchsehen, ohne mit politischem Ballast von Belarus über Klimakrise bis Donald Trump behelligt zu werden. Bis auf Peter Kloeppels „RTL aktuell“ und das „Nachtjournal“ ist das Programm politisch daher fast bedeutungslos – außer mittwochs nach der Show. Dann läuft „stern TV“, wo politischer Ballast auch nicht richtig wichtig ist; er kommt aber zumindest vor. Seit 30 Jahren schon. Herzlichen Glückwunsch!

Und der ist aufrichtig gemeint. Denn so boulevardesk das Reportagemagazin sein mag, so gefühlig die Einzelschicksale aufbereitet werden, so breit der Graben zur seriöseren Konkurrenz klafft, so populistisch das formatübliche Gebräu – aus einer soziokulturell bedeutsamen Story plus Verbrechen, Skandal und Service – auch wirkt: Für Privatfernsehverhältnisse erreicht Günther Jauchs Erbe auch unter Steffen Hallaschkas Verwaltung gelegentlich ARD-Niveau.

Wenn RTL das Jubiläum mit einem Rückblick auf gut 1400 Sendungen mit rund 10 000 Gästen feiert („30 Jahre stern TV“, Mittwoch, RTL, 20 Uhr 15), muss man „stern TV“ 2020 also dringend zu „stern TV“ 1990 ins Verhältnis setzen.

Damals betrat der junge Günther Jauch Neuland. Während sein Auftraggeber das US-amerikanische Infotainment brachial germanisieren half, sollte es der ZDF-Ankauf bei „stern TV“ zwischen „Tutti Frutti“ und „Heißer Stuhl“ mit ein wenig publizistischer Restwürde versehen. Was er auch tat. Mit nachhaltigem Erfolg. Schließlich kam die Mixtur aus minimaler Distanz bei maximaler Personalisierung, mit der das nationale Weltgeschehen aufs Stammpublikumsinteresse heruntergebrochen wurde, nicht nur bei der eigenen Klientel gut an. Es wirkte auf die Medienbranche stilbildend.

Das duale System aus öffentlich-rechtlich und Privat-TV war damals, 1990, kaum fünf Jahre alt. Gewohnt war man Berichterstattung hoheitlicher Proklamation. Graue Herren verkündeten die Nachrichtenlage eher unter ihresgleichen, als Diskurse für jedermann zu öffnen. Informationsfernsehen war Expertenfernsehen war Konsumierungsfernsehen – bis sich Günther Jauch mit Paartherapeutenstimme zur Patenonkelmiene neben Promis und Politikern gewöhnliche Menschen ins Studio lud, um ihnen vor der Kamera Gehör zu verschaffen.

Günther Jauch und Steffen Hallaschka
Günther Jauch und Steffen Hallaschka

© RTL

Inhaltlich ging es dann zwar ums übliche RTL-Gezeter aus Blut, Schweiß und Tränen im Blau- oder Rotlicht. Aber zwei Jahre bevor Hans Meiser auf gleichem Kanal den gescripteten Daily Talk importierte – was Jauchs Kollegen von Ilona Christen über Jürgen Fliege bis zu Margarethe Schreinemakers fortan zur Pöbel-Industrie aufblähten –, rührte „stern TV“ soziokulturell bedeutsame Themen „von Massentierhaltung über Werksverträge bis Mindestlohn“ unter, wie Günther Jauchs Nachfolger Steffen Hallaschka das Themenspektrum der vergangenen Monate beschreibt.

Dafür setzt sich dann zwar schon auch das handelsübliche Fachpersonal à la Karl Lauterbach ins rote Mobiliar von Jauchs Produktionsfirma i&u TV, die „stern TV“ auch nach dem Ende der Drittsendelizenz vor zwei Jahren für RLT produziert. „Für gesellschaftlich relevante Themen“ sucht seine Honorarkraft Hallaschka auch zehn Jahre nach der Amtsübernahme „Menschen, die sie individuell zum Ausdruck bringen“. Damit erklärt er nicht nur, wie das Magazin seit 30 Jahren funktioniert, sondern mehr noch, welcher Entwicklung es damit vorgegriffen hat.

So funktioniert Boulevard, seit Menschen miteinander reden

Blieb die Personalisierung politischer Großwetterlagen zuvor auf „Bild“ und „BamS“ beschränkt, fügte RTL Gerhard Schröders Regierungsdreiklang-Satz die „Glotze“ hinzu. Und zu der Zeit, als das ARD-Gewächs Hallaschka (zwischen 2000 und 2008 moderierte er für die Hörfunkprogramme des ORB, später RBB, zunächst bei Fritz, später bei Radio Eins) in die Fußstapfen seines Vorgängers trat, wurde das Infotainment dank sozialer Medien so individualisiert, dass selbst im „heute-journal“ sinnlose Tweets nun Kundennähe simulieren.

So gesehen war „stern TV“ bloß die Anschubprofanisierung der aktuellen Ich-Kultur – auch wenn Hallaschka sie wohl „Wir-Kultur“ nennen würde. Am vergangenen Mittwoch übrigens mit dem Themenquartett „Schule in Corona-Zeiten“, „Naturkosmetik auf dem Prüfstand“, „Expedition mit einem Haiforscher“ und „Mordfall Nicole Schalla“.

Ein bisschen Politik also und ein wenig Schleichwerbung, etwas Action und viel Entsetzen. So funktioniert Boulevard, seit Menschen miteinander reden, so macht ihn RTL seit 30 Jahren einigermaßen erträglich. „Uns ging es nie um Skandale, also Effekte, sondern Inhalte.“ Objektiver als mit dem Auge Hallaschkas betrachtet ist „stern TV“ eine Melange von allem auf einmal. Und das sehr erfolgreich.

Jan Freitag

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