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Kennt kein Erbarmen: Lidia Amariei (Ilinca Neacsu) wurde zur Prostitution gezwungen und sinnt auf Rache.

© ZDF und Benjam Orre

Schwedische TV-Serie „Box 21“: Alles andere als Bullerbü

Von Zwangsprostitution bis Staatsterror: Die Thrillerserie „Box 21“ auf ZDFneo bohrt dicke Bretter.

Was ein Frisurenwechsel aus Menschen doch so alles machen kann. Eben noch wurde Lidias süßes Lächeln so lieblich von einer ebenholzbraunen Mähne umspielt, dass ihr der attraktive Lucian glatt schöne Augen macht. Kaum aber hat sie sich den Schädel kahlgeschoren, tauscht die rumänische Kellnerin ihr roséfarbenes Polohemd gegen ein stahlgraues Tanktop, klaut Polizisten die Waffen, nimmt damit mehrere Geiseln und ist auch sonst zu allem bereit. Was für ein Wandel!

Wobei hinzuzufügen ist, dass Lidias Metamorphose vom Rausche- zum Racheengel gut zwei Folgen der schwedischen Thriller-Serie „Box 21“ dauert, die am Freitag bei ZDFneo startet. Und dass nahezu jedes Format mit dem Stempel „Schwedische Thriller-Serie“ vor gewaltsamer Verwandlung nur so strotzt, lässt sich hier leicht erklären: Kurz nachdem der scheinbar nette Gast (Cristian Bota) die unterbezahlte Praktikantin (Ioana Ilinca Neacsu) mit der Aussicht auf ein besseres Leben aus Bukarest nach Stockholm lotst, entpuppt sich Lucian auch schon als Teil eines schwedischen Zuhälterrings, der Lidia in die Prostitution zwingt.

[ „Box 21“, ZDFneo, Freitag, 22 Uhr]

Es folgt ein Horrortrip, der ihr Rückgrat allerdings eher stärkt als bricht. Denn kaum, dass sie sich statt der Schamhaare die Locken abrasiert, begehrt Lidia gegen ihre Peiniger auf. Sie zweigt heimlich Einnahmen ab, die ihre Landsfrau Alina (Anda Sârbei) in einem Schließfach am Bahnhof deponiert, verrät ihre Komplizin selbst dann nicht, als sie einer der Zuhälter fast zu Tode foltert. Und als das psychisch wie physisch vernarbte Gewaltopfer im Krankenhaus wieder zu Sinnen kommt, wird es seinerseits handgreiflich und startet einen Vergeltungsfeldzug.

Schwedische Kriminormalität eben. Von wegen Bullerbü und so. Und sie zieht wie gewohnt in diesem Genre noch weitere Kreise. Parallel zu Lidias Geschichte erzählt Regisseur Mani Maserrat-Agha nämlich auch die des prinzipientreuen Cops Ewert (Leonard Terfelt), dessen Frau und Kollegin Anni (Sandra Andreis) mutwillig vom Auftragskiller Jochum (Joakim Sällquist) überfahren wird. Wir wären weit jenseits von Schweden, wenn hier nicht alles mit allem irgendwie zusammenhängen würde.

Abgründe scheinbar saturierter Gesellschaften

„Box 21“, benannt nach Alinas ominösem Schließfach, skizziert wie so oft aus skandinavischer Produktion die Abgründe scheinbar saturierter Gesellschaften am Beispiel personeller Verstrickungen von der tiefsten Unterschicht bis hoch zu den Führungsetagen aus Politik und Wirtschaft. Auch in der Serienversion von „Blasse Engel“, dem Bestseller des preisgekrönten Autorenduos Börge Hellström und Anders Roslund, wird demnach wieder das ganz dicke Brett aus Mädchenhandel und Zwangsprostitution mit freundlicher Hilfe der Polizei gebohrt. Trotzdem sind diese sechs dreivielstündigen Episoden ein wenig anders als üblich.

Das liegt unter anderem an der in „Game of Thrones“ kultivierten Eigenart, tragende Figuren ebenso vorschnell wie unvermittelt ableben, andere wie Jochums vermeintlich wehrloses Auftragsmordobjekt Sam (Bahador Foladi) hingegen jede Todesgefahr überleben zu lassen. Hinzu kommt die jahrzehntelang Scandi-Noir-erprobte Bildgewalt einer hinreißenden Landschaft voll niederträchtiger Menschen (Kamera: Benjam Orre).

Wirklich bemerkenswert ist allerdings, wie der Writers Room um Dennis Magnusson seine weiblichen Charaktere zeichnet. Hauptfigur Lidia mutiert zwar etwas rasant vom Objekt männlicher Macht zum Subjekt selbstbewusster Vergeltungsschläge. Andere Frauen im Cast hingegen sind bis zum verblüffenden Schlussakkord von einer handlungsrelevanten Vielfalt, die den berüchtigten Bechdel-Test glaubhaft mit links bestünde. Wäre das Ganze nicht so zahnpastareklameaufdringlich synchronisiert – „Box 21“ könnte trotz aller Brutalität herausragende Unterhaltung sein. So ist es immerhin sehr solide.

Jan Freitag

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