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Auf Youtube die Bedenken weglächeln. Die Influencerinnen Mimi und Maja (Lisa und Lena Mantler).

© NDR/Ennenbach

ARD-Film über Mikro-Pillen: Am eigentlichen Skandal vorbei

Der ARD-Film "Was wir wussten" über riskante Antibabypillen verheddert sich in antikapitalistischen Klischees.

Würden die Bewohner der früheren Welt-Apotheke über Deutschlands meistgehasste Berufsgruppen abstimmen – Manager der Pharmaindustrie landeten wohl noch vor Parteipolitikern und Politessen ganz oben im Ranking. Falls erstere also für die gängige Fernsehunterhaltung gebraucht werden, folgt daraus zwingend zurück gegeltes Haar, spöttisches Grinsen, zynische Sprüche und Doppelnamen mit Naziassoziationsoption wie Holger Schmitz-Wessel.

So heißt der gewissenlos arrogante, charmant-schmierige Pharma-Manager im ARD-Mittwochsfilm „Was wir wussten“ – wobei der Untertitel „Risiko Pille“ sofort klar macht, worum es dem Kapitalismus-Brutalisierer geht: gegen den Rat eines Mitarbeiters mit der sprechenden Anrede Carsten Gellhaus (Stephan Kampwirth), prügelt Holger Schmitz-Wessel – aasig verkörpert von Thomas Heinze – ein wissentlich unheilschwangeres Verhütungsmittel auf den Markt, an dem denn auch zahllose Nutzerinnen größtenteils schwer erkranken.

Obwohl auch die anderen Charaktere dieser fiktionalen Geschichte frei erfunden sind, ist ihre Grundlage durchaus authentisch: Mitte der 1990er kamen weltweit Antibabypillen der 3. und 4. Generation in den Handel, die dank vergleichsweise geringer Dosierung des hormonellen Wirkstoffs Gestagen neben Schwangerschaften auch Hautkrankheiten verhindern halfen. Im Nebeneffekt erkrankten jedoch überdurchschnittlich viele Nutzerinnen an Thrombose. Während seriöse Medien ihre Berichterstattung auf messbare Gefahren beschränkten, schockte der Boulevard sein Publikum entsprechend mit Todesfällen. Es war ein schleichender Skandal verschiedener Perspektiven, der zuletzt 2009 vielerorts zum Verbot der Mikropillen führte.

Klinisch weiße Designerarchitektur

Ein Schritt, mit dem sich der Industriestandort D seit jeher so schwertut, dass er weiter legal mit Gestagen verhüten lässt. Und genau da setzt „Was wir wussten“ an: in seiner klinisch weißen Designerarchitektur arbeitet ein PR-Team des Konzerns „Sonne Pharma“ an der Markteinführung seiner neuen Mikropille. Und weil sie neben der medizinischen Primärwirkung nicht nur Pubertätsakne, sondern Attraktivitätsdefizite jeder Art lindern soll, präsentiert Teamleiterin Sabine Krüger (Nina Kronjäger) ein Zwillingspaar junger Youtuberinnen, das „Bellacara“ nicht als Arznei, sondern als Lifestyle-Produkt promotet und so schon für Elfjährige begehrenswert macht.

Was zählt ist der Erfolg. Sonst nichts. Und damit das auch der sedierteste Zuschauer begreift, bombardieren die Autoren Eva und Volker A. Zahn unablässig mit Vokabular und Habitus des selbstberauschten Shareholder-Kapitalismus. Je eifriger der Mediziner Gellhaus „Fuck-News“ genannte Zweifel an der Verträglichkeit kundtut, desto lauter dringt Manager Schmitz-Wessel aufs „Action-Date“ genannte Premierendatum, wofür Mitarbeiterin Nadine (Luise Wolfram) ihr Influencer-Marketing mit „Giveaways“ ankochen will, weil der rasche Erfolg nun mal „höchste Visibility“ hat, wie Teamchefin Sabine Krüger (Nina Kronjäger) die kommerzielle Priorität ihres Arbeitgebers umschreibt.

„Let’s face the facts“, sagt Sabine an anderer Stelle und könnte mit dem Rat, die Realität zu akzeptieren, den ganzen Film meinen. Schließlich verkleistern semantische Klischees aus dem Setzkasten der Kapitalismuskritik fast 50 Prozent der Handlung, was dank der größtenteils mäßigen Schauspielleistungen noch unverdaulicher wird als die giftigen Mikropillen. Dass die eingeprügelte Moral dennoch sehenswert gerät, liegt daher an der restlichen Hälfte. Immer dann nämlich, wenn Regisseurin Isabel Prahl das permanente Machtspiel aller Beteiligten übers Vulgärökonomische hinaus erweitert, kriegt „Was wir wussten“ durchaus emotionales Gewicht. Jan Freitag „Was wir wussten – Risiko Pille“, ARD, Mittwoch, 20 Uhr 15

Jan Freitag

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