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„Being Jan Ullrich“: Postheorischer Held

Googeln Sie mal „Beckenbauer“ und „Held“: Die ARD-Doku „Being Jan Ullrich“ schildert Aufstieg und Fall des größten deutschen Radprofis.

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Auf dem Olymp. Jan Ullrich gewann 1997 die Tour de France.
Auf dem Olymp. Jan Ullrich gewann 1997 die Tour de France.

© imago/Kosecki

Deutschland, deine Helden – das war schon immer eine Lovestory. Seit Soldaten dazu kaum noch taugen, sind allerdings unbewaffnete Vorbilder gefragt. Feuerwehrleute und Herzchirurgen zum Beispiel, zuletzt auch Fluthelfer oder Krankenschwestern. Schon komisch: ausgerechnet im postheroischen Zeitalter taugen theoretisch alle zum Idol. Also auch Sportprofis.

Wer „Helden“ mal mit „Fußball“ googelt oder „Biathlon“, mit „Handball“ oder „Triathlon“, mit „Leichtathletik“ oder „Tennis“, gar mit „Turmspringen“ oder „Bergsteigen“, also praktisch jeder Leibesübung im Fokus der Medien, landet Hunderttausende Treffer und täglich kommen mehr hinzu.

Anfang der Neunzigerjahre, so erfahren die Zuschauer im ARD-Porträt „Being Jan Ullrich“, steigt der lichtscheue Radrennfahrer aus Rostock rasant vom Jugend- zum Weltmeister auf, vom DDR-Talent zum globalen Superstar.

Während Steffi Graf und Boris Becker den Zenit ihrer Karrieren überschreiten, während Michael Schumacher eher polarisiert als triumphiert und Berti Vogts’ Rumpelfüße langsam peinlich werden, gewinnt der 23-Jährige 1997 die Tour de France und gerät zum Liebling der „Bild“", und damit aller. Wie aufregend. („Being Jan Ullrich“, ARD-Mediathek)

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Und wie öde. Schließlich muss jede Heldenerzählung Hindernisse überwinden – darin unterscheidet sich die mediale Erregungsindustrie kaum von jeder gewöhnlichen Bergetappe. Aufsteigen, hinfallen, aufrappeln: erst dieser Dreiklang hebt Normalsterbliche aus der Masse Richtung Ruhmeshallen (inter-)nationaler Wertschätzung. Die vierteilige Dokumentation von Ole Zeisler und Uli Fritz ist deshalb mittig gespalten.

In den ersten zwei Folgen beschreiben sie mithilfe sachkundiger Zeitzeugen und Wegbegleiter, wie das Jahrhunderttalent aus Rostocks Hochhaussiedlung Lütten Klein über Radler-WGs in Hamburg und Berlin auf den Champs Elysée landet.

Drollige Home-Videos und Schwarzweißfotos voll ironiefreier Schnauzbärte und Blümchenleggings erzählen das wahre Märchen vom kleinen Jan, der – wie es sein Trainingskollege und Kumpel André Korff schildert – beim Stehversuch mit Rennrad, den andere nach einer halben Minute abbrechen, „die Stunde vollmacht“.

Befeuert von einer erfolgshungrigen Öffentlichkeit

Er wollte „um jeden Preis Erfolg haben“, erinnert sich Ullrichs französischer Biograf, „das war ein Geschenk“. Und es bringt ihn in zwei Mal 30 Porträtminuten auf den Olymp – von dem es freilich nur noch bergab geht. Der Preis des Erfolgs war nämlich eine übersteigerte Form von Aufmerksamkeit, die den Sohn einer alleinerziehenden Mutter mit familiärer Gewalterfahrung schon am Ende des ersten Teils überfordert. Fast folgerichtig mündet „Being Jan Ullrich“ in die Katastrophe.

Viele Kollegen von Lance Armstrong bis Udo Bölts, mit denen die Autoren anstelle ihrer Titelfigur reden, sind ja ähnlich tief gefallene Helden einer Radsportepoche, in der Profite über Gesundheit gehen und Erfolge über Fairness.

Befeuert von einer erfolgshungrigen Öffentlichkeit, jubeln aber auch weit weniger populismusanfällige Journalisten von ARD und ZDF, die sich ihr Premiumprodukt nicht durch unbotmäßige Kritik eintrüben lassen wollen, den Weltstar mit Wohnsitz Schwarzwald zum ewigen Tour-Dominator hoch und verschließen die Augen vorm Leitungsdruck im Dopingsumpf, der auch ihren Sponsoringpartner Team Telekom verschlingt.

„Being Jan Ullrich“ ist daher nicht nur das Porträt eines Ausnahmesportlers auf Abwegen, sondern der Aufmerksamkeitsgesellschaft und ihrer Medien generell. Wenn ein Reporter im Vorspann jeder Folge fragt, „wer soll diesen Mann schlagen?", lautet die Antwort: er selbst und ein postheroisches Land, das auf der Jagd nach Ersatz für bewaffnete Helden fest auf seine Sportstars baut. Googeln Sie mal „Beckenbauer“ und „Held“.

Jan Freitag

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