zum Hauptinhalt
Die anderen chillen, die Regisseurin hat Stress. Annekatrin Hendel drehte überwiegend mit dem Handy und entschied sich im Schneideraum für Schwarz-Weiß und Cinemascope. Szene mit „Stieftochter“ Matilda und ihrem spanischen Freund Juan. Foto: RBB

© rbb

Annekatrin Hendel im Interview: „Die schlechtestgelaunte Person war ich“

Annekatrin Hendel über ihren Corona-Dokumentarfilm „Vertreibung ins Paradies“ mit der eigenen Patchworkfamilie.

Die Dokumentarfilmerin Annekatrin Hendel hat sich mit Werken wie „Die Familie Brasch“ einen Namen gemacht, mit Filmporträts von Sascha Anderson, Fassbinder oder dem Berghain-Türsteher Sven Marquardt („Schönheit und Vergänglichkeit“). Als Produzentin wollte sie 2020 eigentlich einen großen Film über alternde Hobby-Eiskunstläufer realisieren. Ein Jahr arbeitete sie an der Finanzierung. Dann kam Corona, und sie saß zu Hause.

„Vertreibung ins Paradies“ ist ihr persönlicher Pandemie-Film geworden, eine Patchworkfamilien-Tragikomödie in wunderschönem Schwarz-Weiß und großzügigem Cinemascope, überwiegend mit dem Handy gedreht. Während die anderen chillen, der Selbstisolation mit Galgenhumor begegnen, hat die Filmemacherin im Off schlechte Laune. Brandenburg drum herum wird zur verbotenen Zone, Corona- Soforthilfe-Debatten wechseln sich ab mit Dada-Disputen über das Streiten an sich. Macht die Spülmaschine schlapp, kippt jetzt die Gruppendynamik?

Die Katze schleicht durchs Bild, im Garten schmilzt ein Schnee-Osterhase: „Vertreibung ins Paradies“ blendet auf heitere, verblüffend lakonische Weise zurück in jene vorvergangene Zeit, als der Lockdown noch ein Abenteuer war. Der Film „Vertreibung ins Paradies“ läuft am Mittwoch, 23 Uhr, im RBB. Matilda Pfeiffers Musikvideo zum Abspannsong „Alles auf Pause“ ist ab 18. März auf Youtube zu sehen.

Annekatrin Hendel, 1964 in Ost-Berlin geboren, lebt als Regisseurin und Produzentin in Berlin. 2004 gründete die Grimmepreisträgerin mit IT WORKS! Medien ihre eigene Firma.

Frau Hendel, wie kam es, dass Sie als Dokumentarfilmerin die Kamera auf Ihre eigene Familie gerichtet haben?
Es schien mir ein historischer Moment. Aber gleich zu Anfang des ersten Lockdowns hatte ich auch einen Lagerkoller und war komplett überfordert. Einerseits gab’s beruflich Stress und existenziellen Druck, andererseits war die Bude wesentlich voller als sonst. Wir sind ja eine West- Ost-Patchworkfamilie und hatten schon zwei Wochen vorher die Tochter meines Lebensgefährten, die in Spanien lebt, zu Besuch. Ihr spanischer Freund kam nach. Schnell war entschieden, dass wir die ungewisse Zeit alle zusammen in unserem Haus in Brandenburg verbringen. Mit meinem jüngsten Sohn im Homeschooling- Modus eine interessante neue, aber nicht ganz einfache Konstellation. Und da habe ich sofort losgedreht.

Die anderen fühlten sich offenbar erst mal ganz wohl.
Ja, die anderen waren irgendwie gut drauf. Die schlechtestgelaunte Person war ich. Dass die anderen zugelassen haben, dass ich zu Hause drehe, geschah wohl in der Hoffnung, dass sich meine Stimmung dadurch etwas hebt. Das hat auch funktioniert. Ich konnte das Geschehen aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Den Mikrokosmos einer Sandfliege vor unserer Tür hätte ich sonst nie mit so einer Ausdauer wahrgenommen.

Regisseurin Annekatrin Hendel

© picture alliance / dpa

„Vertreibung ins Paradies“ ist fast schon ein historisches Dokument. Vor einem Jahr dachten wir alle, im Sommer sei es vorbei.
Ich dachte das nicht, deshalb war ich auch so deprimiert und fühlte mich alleine damit. Der Film war wie Notwehr. Normalerweise bleibt die Kamera bei mir zu Hause aus, mit „Vertreibung ins Paradies“ habe ich ein großes Tabu gebrochen. Meiner Familie so etwas zuzumuten ... Aber wenn ich einen Film über Fassbinder, über die Familie Brasch oder mit Sven Marquardt drehe, mute ich genau das ja auch meinen ProtagonistInnen zu. Der Film ist also eine extrem persönliche Momentaufnahme und versucht, offen zu beschreiben, was ist. Dazu gehören eben auch die Widersprüche zwischen uns.

Gab es eine Verabredung, ja, du darfst den Alltag hier filmen?
Meine „Stieftochter“ Matilda meinte, wenn ich gewusst hätte, dass es ein Film wird, hätte ich mir wenigstens einmal die Haare gewaschen. Sie macht Musik neben ihrem Biologiestudium und hat letztlich den gesamten Soundtrack für den Film produziert, mit ihrer Band Van_Damme 38. Jetzt haut sie den Abspannsong als eigenes Musikvideo raus. Und da sieht man, wie sie wirklich aussieht. Ja, egoistisch wie ich bin, habe ich einfach losgelegt, die Familie zwar informiert und mich sofort um den Sender gekümmert, aber dass es tatsächlich ein Film wird, hat wohl keiner gedacht. Mich eingeschlossen. Es war für alle mit viel Zweifel verbunden ...

„Vertreibung ins Paradies“, der Titel ist ganz schön selbstironisch
Es fehlt uns an nichts. Wir leben wie die Maden im Speck, im Haus mit Garten. Es gibt andere, wirklich harte Lebensumstände im Lockdown. Aber mein Film erzählt von ebendem Fleck, an dem wir gerade waren, und das so genau wie möglich. Obwohl es uns gut geht, ist es wie bei „Woyzeck“: Man will töten, was man liebt.

Das Banale wird plötzlich das Zentrale. Zum Beispiel werden ausführlich Einkaufslisten erstellt.
Wir haben sicher auch hochtrabende Diskussionen geführt. Ich wollte keinen Film darüber machen, was für tolle Typen wir sind. Nein, ständig wurde übers Essen geredet und gekocht, genau das ist ja überall gleich. Dass unsere Bude nie aufgeräumt ist, dass die Nebensächlichkeiten und die eigenen Abgründe nicht ausgeblendet sind, macht vielleicht den Charme des Films aus. Also haben mein Schnittmeister Jörg Hauschild und ich alles dringelassen, was wir sonst rausschneiden. Wenn zum Beispiel das Thema Überwachung aufkommt, kommt das Blutdruckmessgerät meiner Mutter ins Spiel.

Warum haben Sie sich für Schwarz-Weiß- Bilder entschieden, in Cinemascope?
Hundert Prozent persönlich, immer dieselbe Bude, dieselben Leute, derselbe kleine Garten – wie zeigt man das, ohne dass es langweilig wird? Und wenn das Wort „Paradies“ im Titel steht, man unweigerlich an strahlendes Grün oder Blau denkt, wenn es um ein angemessenes Verhältnis zwischen Natürlichkeit und Form, Abstand und Klaustrophobie geht, wenn die Aufnahmen mit einem Telefon gemacht werden, liegt es irgendwie nahe, in Cinemascope und Schwarz-Weiß zu drehen.

Sind Sie nach wie vor in dem Haus im Garten und arbeiten von dort?
Im Moment ja. Homeoffice. Ich habe mich aber an die Situation gewöhnt und auch der Letzte hat begriffen, das Corona keine Kleinigkeit ist und sich hinzieht. Ich bin damit nicht mehr alleine. Die Konstellation hat sich auch erst mal aufgelöst. Die beiden Spanier sind in Spanien, mein Sohn Bosse macht Abitur und ist oft in Berlin bei seinem Vater. Mein Partner dreht gerade. Ich habe echt was gelernt über dieses Ringen einer, meiner Familie in besonderen Zeiten. Auch durch den Film. Ohnehin hat mich die Arbeit an diesem Film buchstäblich gerettet. Inzwischen bewege ich andere Projekte, zum Beispiel eine Kinoproduktion über die Sorben, „Das vergessene Volk“ unter der Regie von Grit Lemke, „Das Kombinat“ unter der Regie von Moritz Springer und meine eigene neue Regiearbeit über Hiddensee. Eine große komplexe Erzählung über unser Land anhand dieser winzigen Insel.

Sie haben im Lockdown gut zu tun.
Ja, ich hatte dann doch keine Zeit, meinen Dachboden aufzuräumen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false