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Medien: Du lebst noch sieben Minuten

Täterfilme, Fahnderfilme: Warum Fernsehkrimis das Drama der Opfer bevorzugt ausblenden

„Am Anfang liegt ’ne Leiche rum, dann kommt ein Ermittler und kriegt im Lauf des Films heraus, wer sie auf dem Gewissen hat.“ So einfach erklärte mir ein ARD-Redakteur vor 25 Jahren, wie ein „Tatort“ funktioniert.

Tatsächlich funktionieren die meisten so. Auch meine. Der Kommissar ist der Held. Aber ist er auch die Hauptfigur?

In der Regel wählt der Autor die Perspektive des Ermittlers als seine Erzählposition. Manchmal wechselt er die Perspektive und rückt den Täter ins Blickfeld. Das geht zwar nicht so weit, dass der Autor seinen Kommissar zum Komplizen des Täters macht. Aber da sein Ermittler sich bemüht zu verstehen, warum ein Mensch dahin kommt, ein Verbrechen zu begehen, fühlt er sich in den Täter ein und kann dann durchaus Sympathien für ihn entwickeln. Aber immer bleibt es dabei: Der Kommissar wird durch seine Ermittlungserfolge zum Helden.

Doch ein Drama, und jeder „Tatort“ ist ein Drama, braucht mehr als einen Helden, der uns zudem meist längst vertraut ist. Es benötigt eine Figur, mit der wir emotional mitgehen, mit der wir fühlen, leiden, weinen und manchmal lachen. Das ist nur selten der Ermittler. Vielmehr ist es eine Person, die ein besonderes Schicksal hat, das wir nachempfinden können. Diese Person kann durchaus der Täter sein. Manchmal ist es ein Mensch, der durch den Tod des Opfers einen schweren Verlust erlitten hat. Seltener das Opfer selbst. Denn das Opfer einer Straftat ist meistens schon tot, wenn der Kommissar seine Ermittlungen aufnimmt (siehe oben). Deshalb wird es zumeist nur wie eine Sache, wie ein Indiz behandelt. Sein Leiden ist passé, wenn der Film beginnt.

Als ich meinen ersten Bienzle-„Tatort“ schrieb, geschah der Mord in der letzten Minute des Films. Getötet wird ein Mann, den wir von Anfang an kennen und der durch seine fiesen Methoden uns alle gegen sich aufgebracht hat. Das Opfer ist der Mensch, der ihn am Ende tötet.

Ein Opfer war auch in meinem letzten „Tatort“ bis ganz am Ende des Films in den Fängen seines Peinigers. In diesem Fall ein Mädchen, das in die Hände eines Sexualstraftäters geraten war. Wir erleben den Leidensweg einer jungen Frau, die den Tätern ausgeliefert zu sein scheint, bis die Kommissare das Gespinst der kollektiven Täter zerreißen. Es gibt also durchaus die Möglichkeit, andere Erzählperspektiven zu wählen. Herbert Lichtenfeld und Wolfgang Petersen haben das in dem berühmtesten aller „Tatorte“, in der „Reifeprüfung“, bewiesen.

Aber die Opferperspektive wird extrem selten gewählt. Lässt man einmal eine Reihe von Kriminalfilmen Revue passieren, dann stellt man fest, dass der Tod nachlässig behandelt, ja verdrängt wird. Das Leiden des Opfers, aber auch der Umgang der Lebenden mit dem Sterben wird links liegen gelassen. Die Ermittler und selbst die Angehörigen gehen fast nahtlos zur Tagesordnung über. Das Opfer wird buchstäblich zu den Akten gelegt. Das mag an der Scheu der Autoren liegen, den Tod zu nahe an sich heranzulassen.

Wie auch immer. Das Opfer hat im doppelten Sinn keine Chance – weder bei den Tätern noch bei den Schreibtischtätern. Dabei müsste es besonders spannend sein, die genretypischen Formen zu durchbrechen, Kriminalfilme aus der Opferperspektive zu erzählen und so die Entstehung und Entwicklung eines Verbrechens zu schildern. Aber es scheint, als widerspreche das den vorgegebenen Regeln.

Diese Regeln hat es in der Geschichte des „Tatortes“ immer gegeben. Die wichtigste: Am Ende wird immer der Täter überführt. Der Ermittler bleibt Sieger. Auf dem Weg dorthin sollten verschiedene Figuren verdächtig sein. In manchen Fällen wird das gehandhabt wie ein Stafettenlauf: Ein Mensch gerät in Verdacht. Es gelingt ihm, seine Unschuld zu beweisen, oder der Kommissar kommt dahinter, dass derjenige nicht für die Tat infrage kommt. Da hat er aber auch schon den nächsten Verdächtigen im Visier und so weiter, bis es am Ende der war, mit dem man am wenigsten gerechnet hat.

Eine andere Regel lautet: Der Mord muss in den ersten sieben Minuten geschehen. Seitdem der Fernsehzuschauer mit seiner Fernbedienung eine Waffe gegen uns Fernsehmacher in der Hand hat, muss gleich zu Beginn Höchstspannung aufgebaut werden. Früher durfte ein Film aufgehen wie eine Blume, und im Kino kann man das auch noch erleben. Aber jetzt müssen wir unseren Kunden gleich am Kragen packen und dürfen ihn nicht mehr loslassen.

Dieser Kunde ist andererseits unser Komplize. Man kennt sich. Der Verfasser von Krimigeschichten weiß um die Erwartungen des Konsumenten. Und der Rezipient weiß genau, was der Erzähler vorhat und denkt. Das geht so weit, dass der Zuschauer sagen kann: „Ich weiß ja, du willst mich auf eine falsche Fährte setzen. Ich durchschaue dich. Mich legst du nicht rein.“ Und genau auf dieses Denken spekuliert seinerseits der Autor. Es ist immer eine Gleichung mit beliebig vielen Unbekannten. Das Opfer aber ist in dieser Rechnung eine Konstante, die feststeht und uns nicht weiter beschäftigt, es sei denn in einer Rückblende. Am Ende aber geht die Gleichung immer auf, und alle sind zufrieden.

Der Autor war als Korrespondent des „Spiegel“ für Baden-Württemberg (1972 bis 1979) für die Berichterstattung des Nachrichtenmagazins über die Prozesse gegen die RAF-Mitglieder verantwortlich. Er hat die Täter gekannt. In seinem ersten Kriminalroman „Der Atomkrieg von Weihersbronn“ tauchen sie in verfremdeter Form auf. Seit 1981 arbeitet Huby als freier Buch-, Theater- und Fernsehautor. Er hat unter anderem 34 ARD-„Tatorte“ geschrieben.

Felix Huby

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