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Internet-Trends: Zimmer mit Einsicht

Neuer Exhibitionismus: In Wohnblogs des Internets zeigen Menschen, wie sie leben.

Frédéric Beigbeder hat ein Platzproblem. Vielleicht räumt er auch nicht so gerne auf. Zumindest sind die Regale des Schriftstellers in seinem Pariser Appartement so voll, dass er die Bücher schon auf Stühlen stapeln muss. Dagegen hat REM-Sänger Michael Stipe in den Schränken seines Appartements in Manhattan noch so viel Platz, dass er Pappkaffeebecher diverser Cafés vor den Büchern lagert, umso akkurater bewahrt der Musiker dafür seine Zahnbürste auf: wie mit dem Lineal abgemessen ist sie parallel zwischen Zahnpasta und Seifenschale im Bad platziert.

Es sind exklusive Einblicke in das Leben von Prominenten aus Kunst und Kultur, die Todd Selby den Lesern seines Blogs theselby.com gewährt. Seit 2008 betreibt der amerikanische Fotograf seine Website, auf der er Bilder von Wohnungsinspektionen veröffentlicht. Mit 35 000 Besuchern täglich gehört die Seite zu den erfolgreichsten Einrichtungsblogs. Wen Selby porträtiert, der kann sich für sein außergewöhnliches Stilbewusstsein rühmen. Kein Wunder, dass dem Fotografen die Türen zu exklusiven Wohnungen in Manhattan, Paris und London offenstehen.

Als „Sofa Exhibitionismus“ bezeichnete die „Neon“ kürzlich den Trend, Fremden das eigene Heim zu zeigen. Zurzeit erlebt das einen regelrechten Boom. Nachdem die Generation Web 2.0 längst durch Fashion-Blogs erfährt, wie sich die Menschen weltweit kleiden, zeigen die Einrichtungsblogs, wie die Menschen weltweit wohnen. Quasi durchs Schlüsselloch blicken die Nutzer in die Appartements mehr oder weniger berühmter Leute und können getreu dem Ikea-Motto überprüfen: „Wohnst Du noch oder lebst Du schon?“

In Deutschland heißen die Blogs beispielsweise Stylespion, freundevonfreunden.com oder 23qmstil – und sind durchaus Konkurrenz für die Wohn- und Einrichtungsmagazine, die mit Auflagenverlusten zu kämpfen haben. So verkaufte die „AD“ aus dem Verlag Condé Nast laut IVW im zweiten Quartal 2010 knapp über 100 000 Stück, ein Minus von 4,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahresquartal. „Living at home“ aus dem Verlag Gruner + Jahr verzeichnete ein Minus von 2,6 Prozent mit rund 158 300 verkauften Exemplaren. „Schöner wohnen“ legte dagegen zu, um 5,7 Prozent auf 236 100 verkaufte Exemplare.

Während die Magazine sich oft auf neue Trends konzentrieren oder guten Geschmack mit Designerlampen ab 5000 Euro definieren, zeigen die Blogs Räume, in denen Menschen tatsächlich leben: mit Kaffeeflecken auf dem Tisch, Schuhen, die auf dem Boden herumpurzeln und ungemachten Betten. Ein Konzept, auf das auch das Magazin „Apartamento“ setzt.

Zu den beliebtesten Beiträgen im Blog von Kai Müller gehören die Do-It-Yourself-Anleitungen, beispielsweise, wie man mit Lego-Steinen ein DJ-Pult bauen kann. Der 32-Jährige Webdesigner betreibt die Seite stylespion.de, die mit nach eigenen Angaben bis zu 200 000 Lesern am Tag einer der erfolgreichsten deutschen Stilblogs ist. „Viele Leute suchen nach Inspiration oder wollen eigene Ideen weitergeben“, sagt Müller. Manchmal wird er selbst nach Einrichtungstipps gefragt, kann aber aus Zeitgründen oft nur auf seinen Blog verweisen.

In der Rubrik „15 +1“ befragt er Menschen zu ihrem Wohnstil, dazu gibt es entsprechende Fotos. Todd Selby hat hier als Vorbild gedient. Auch er ist Fotograf und mit seinem Blog inzwischen so erfolgreich, dass er in seinem Stil Kampagnen für Louis Vouitton oder Model Helena Christensen für die französische „Vogue“ inszenierte sowie ein Buch mit seinen Bildern veröffentlichte. „Jeder Mensch ist doch neugierig, deshalb mögen es die Leser, einen Einblick in die Häuser anderer Menschen zu bekommen“, sagt Todd Selby.

Auf diese Neugier setzte auch die Seite freundevonfreunden.com, die aus Berlin heraus von Frederik Frede und Tim Seifert betrieben wird. Sie dokumentieren in ihrem Blog die Arbeits- und Wohnräume kreativer Berliner. In Interviews erzählen „Kreative“ wie DJ Hugo Capablanca oder Medienmann Jo Groebel von ihrem Stil und Leben. Fotos von Ailine Liefeld zeigen, wie es in den Studios und Appartements aussieht. Groebel hat beispielsweise stapelweise Zigarrenschachteln zu Hause. MTV-Moderatorin Hadnet Tesfai muss in ihrem Weddinger Dachgeschoss Turnschuhe übereinanderhäufen, so viele sind es. Solche Einblicke zu bieten, will Frede aber nicht als Exhibitionismus bezeichnen: „Wenn man etwas Schönes hat wie beispielsweise eine schicke Wohnung, dann zeigt man das auch gerne. Das ist doch ganz menschlich.“

Todd Selby hat durch seine Arbeit inzwischen festgestellt, dass „eine Wohnung alles über einen Menschen sagen kann – oder auch gar nichts“. Die Bilder mögen die Nutzer zwar inspirieren, aber am Ende ist „guter Stil, ein Gespür fürs Leben zu haben, und das zu tun, was man will.“

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