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Kolumne: Holt eure Kinder da raus!

Das Internet schafft Arbeit für Medienpädagogen und Beratungsstellen, die Eltern erklären, wie sie ihren Kindern erklären, wie man verantwortungsvoll surft. Es geht auch einfacher, meint unser Autor: Holt die Kinder das raus!

Ehrlich, mir sträuben sich jedes Mal die Nackenhaare, wenn es im öffentlich-rechtlichen Fernsehen heißt, in politischen Magazinen oder solchen der Unterhaltung, „gehen Sie doch bitte auf unsere Facebook-Seite, werden Sie unser Freund“. Niemand wäre vor Jahren auf die Idee gekommen, sich mit Coca-Cola, anzufreunden oder mit dem Bertelsmann-Buchclub zu gehen. Da hätte der rein kommerzielle Zweck auf der Hand gelegen. Es ist eine von interessierter Seite gern und häufig wiederholte Legende, die von der Facebook-Revolution in Tunesien oder Ägypten spricht. Tatsächlich sind die beschleunigten Kommunikationswege des Internets ein Hilfsmittel beeindruckender Veränderungen im Nahen Osten, aber sie sind keineswegs ihr Anlass, schon gar nicht die Voraussetzung gewesen. Dazu gehörten vielfältige soziale Prozesse im Vorfeld, die oft jahrelang zurückliegen. Niemand hätte 1989 den Umbruch in Mittel- und Osteuropa als Fax- oder Kopier-Revolution bezeichnet. Dabei waren diese Geräte wichtige Hilfsmittel, aber eben nur dies.

Wer hat nur die euphemistische Rede von den sozialen Netzwerken erfunden? In Wirklichkeit sind es gewaltige digitale Fangflotten, die sich die Idee von der angeblichen Schwarmintelligenz zunutze machen. Es geht ihnen um Daten, um den Einzelnen noch genauer zu erfassen. Mit den virtuellen Doubletten lassen sich ganz neue Werbewelten gestalten – sie bringen letztlich Milliarden. Sie wollen vernetzen, aber in Wirklichkeit zersetzen und ersetzen sie die Privatsphäre, die Voraussetzung individuellen, autonomen Handelns und Denkens. Die Tyrannei der Intimität, wie wir sie aus der Betroffenheitskultur der 80er Jahre noch kennen, ist gegen den heute tobenden Sturm, den Angriff auf den Einzelnen, ein reines Säuseln. Selbst ein dem Internetwahn verfallener Sascha Lobo macht inzwischen das Recht auf Meinungslosigkeit geltend. Das Netz produziert Unrat aus den Katakomben des Unterbewusstseins. Hier lässt jeder die Sau raus und den Verstand draußen. Nichts schadet Letzterem mehr als die dauernde Außensteuerung, das reflexhafte Reagieren auf jeden neuen Eintrag. Diskussionen sind nicht fruchtbar, landen im eigenen Milieu. Man bestätigt sich in den jeweiligen (Hass-)Ansichten. Joseph Weizenbaum nannte das Internet einmal einen Misthaufen: „90 Prozent sind Schrott, es finden sich aber auch ein paar Perlen und Goldgruben.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

Wenn sich heute schon Erwachsene in die Einsamkeit des Computers flüchten – ich surfe, also bin ich – dann stellt sich erst recht die Frage, wie Jugendliche und Kinder verantwortlich damit umgehen sollen. Dieses Problem schafft Arbeit für Medienexperten, die Eltern in die Kunst des Internets einführen. Damit geht man den asozialen Medien auf den Leim. Persönlichkeitsbildung verträgt sich nicht mit dem all zu frühen Umgang mit dem Netz, schon gar nicht Herzensbildung, Empathie. Was die Gesellschaft braucht, sind nicht Eltern, die ihre Kinder am Ende des Tages fragen: Wie war’s im Netz? Sondern: Vergiss das Netz.

Die Moral des Web 2.0 ist die Amoral. Statt einer Verklärung als Kreativzone brauchen wir eine Kultur seiner Verachtung. Ich bin optimistisch, dass es bald die ersten netzaffinen Eltern ablehnen, ihre Neugeborenen mit Veröffentlichungen auf Facebook zu belasten.

Der Autor ist freier Journalist in Berlin.

Benedict Mülder

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