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Unklare Lage. Die Kommissare Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl, links) und Ivo Batic (Miroslav Nemec, links) warten auf dem Marienplatz in München angespannt den SEK-Einsatz ab.

© BR

Krimis als TV-Kannibalen: Die Angst vor Veränderung

Adenauers Kommissare, Schimanskis Maskulinität, konservative Mörder – ein Essay über den deutschen Fernsehkrimi in 15 Kapiteln.

Klick! Am Sonntag, am Montag, am Dienstag, jeden Tag … aus den Fernsehern tropft Blut, auf der Stirn der Zuschauer zeichnet sich ein Fadenkreuz ab, unsere Augen weit aufgerissen.

Handschellen

Wir sind die Leichen. Die Toten. Die Junkies. Die Täter. Die Kommissare schlagen die Handschellen hart um unsere Handgelenke und fesseln uns ans Sofa.

Der Kannibale

Der Krimi ist der Kannibale unter den Genres. Er frisst sie alle: Komödien, Dramen, Thriller, Romanzen, Action, Horror. Jeden Tag spuckt der Krimi rülpsend Film-Reste in die Wohnzimmer. Krimiland Deutschland, Angstland, TV-Monokultur. Verblödung? Panikmache? Brutalisierung? Macht die Krimi-Permanenz die Populisten groß?

Stahlnetz

„Dieser Fall ist wahr. Er wurde aufgezeichnet nach Unterlagen der Kriminalpolizei.“ So begann 1958 die Krimireihe „Stahlnetz“ (NDR). Dazu Paukenschläge wie Fausthiebe ins Gemüt. Spannung ja, Action auch, aber vor allem Vermittlung realer Polizeiarbeit. Die Kommissare blieben Funktion. In schweren Mänteln standen sie ohne Ich und nennenswerte Identität im Bild. Die DDR reagierte mit der langlebigen Reihe „Blaulicht“. Deutschland war getrennt, aber man mühte sich gemeinsam um Unterhaltung, Aufklärung. Der sachliche Kommissar musste beschädigtes Vertrauen in den Staat zurückgewinnen.

Adenauer

Der Alte. Der Kanzler. Der Meta-Kommissar. Konrad Adenauer machte die Bösen dingfest. Nazis, aber vor allem die „Sofjets“. Die Westdeutschen vertrauten dem Alten. Zwar scheiterte der CDU-Bundeskanzler 1961 mit dem Versuch, ein Gegenprogramm zur ARD zu errichten, ein „Adenauer ist das Beste“-Fernsehen, aber aus dieser Initiative geht das ZDF hervor und entlässt Konrads Agenten: „Der Kommissar“ (1969), „Derrick“ (1974), „Der Alte“ (1977). Diese Ermittler tragen Adenauers Physiognomie, seine Autorität und Einsilbigkeit hinaus ins Land.

Kälte

Diese Männer – und es waren nur Männer –, diese Kommissare waren Anwälte der Kälte, der Sachlichkeit. Sie entdramatisierten die Dramen, sie mieden das Pathos, sie zeigten kein Gefühl. Selbst wenn auf sie geschossen wurde wie in „Eine Kugel für den Kommissar“ (1970) auf Kommissar Keller (Erik Ode), blieben sie provozierend gelassen. Die Frauen und Assistenten reagieren wie aufgescheuchte Hühner, der Kommissar zuckt die Achseln. Der erschütterte deutsche Mann gewinnt nach dem Krieg in der Figur des Kommissars neuen Halt. Helden dürfen sie nicht sein, die Zeit ist nicht danach, aber sie zeigen Statur, Beherrschtheit, sie sind Stoiker, sie sind der gerechte Staat, sie sind das Vätergenesungswerk. Unter ihren Mänteln schwitzen sie Geschichte aus, früher trugen sie Ledermäntel oder Stahlhelm, doch davon keine Spur.

„Tatort“

Die ARD-Reihe (1970) ist eine Reaktion auf den Erfolg des „Kommissars“. Das föderale Prinzip der Reihe garantiert ihre Langlebigkeit. Der „Tatort“ bildet Mentalitäten ab, erkundet Städte, Regionen und Landschaften, beobachtet das Böse mit penibler Gewissenhaftigkeit. Die Kommissare in den siebziger Jahren heißen Trimmel, Marek, Haferkamp oder Veigl. Sie sind Herren ihrer Zeit, Eigenzeit, ein Bier, eine Bulette, Bockwurst oder Tasse Kaffee sind immer drin: die allmähliche Verfertigung der Lösung beim Kauen. Bei aller Dringlichkeit bleiben sie doch Spezialisten der Entschleunigung. Ihre Gemächlichkeit ist auch eine Reaktion auf amerikanische Krimiserien, in denen gerast, geschossen, geboxt und viel schneller geredet wird. Auch deshalb bleibt der Zollfahnder Kressin (1971 bis 1973) in der „Tatort“-Reihe eine kurzlebige Ausnahme. Der antiautoritäre Playboy und Hedonist passte als rebellischer Sohn nicht ins übliche Väterschema.

„Derrick“

Seine Augen waren tot. Selbst wenn man Derrick in einen sündigen Nachtclub schickte, starrte er ins Leere oder in die Augen des Verbrechers. Stephan Derrick war lange Jahre der Exportschlager des deutschen Fernsehens, in über hundert Länder verkauft. Er war der Manichäer unter den Kommissaren, er trennte das Gute vom Bösen, moralische Sentenzen waren ihm mindestens genauso wichtig wie felsenfeste Indizien. Abgrundtiefe Augenringe bezeugten: Ich hab alles gesehen. Der Mann war sein eigene Wachsfigur und so verband er die Jahrzehnte als Dauerläufer, Generationendiplomat und Pädagoge. Vor diesem Deutschen musste nur die Unterwelt bangen, die Welt hingegen ging mit ihm beruhigt zu Bett. Wie der blinde Prophet Teiresias nahm er 1998 seinen Abschied und hielt dem Publikum eine Predigt. „Der Zuschauer spricht sich selber frei von jeder Mitschuld, denn er hat ja auch selber nichts damit zu tun. Die Welt wird als Spektakel begriffen, in der die Zuschauer in Spannung und Atem gehalten werden.“

„Schimanski“

Er schickte sie alle in Rente. Horst Schimanski (Götz George) wurde 1981 der große Star und Reformer. Er war Zeitgeistbeauftragter der Achtundsechziger-Generation, ein Kind der Frustrierten im Apparat, ein Repräsentant der Linken im Kampf gegen Helmut Kohl und das Establishment. Mit ihm hielt das Starprinzip Einzug, die Aufwertung des Kommissars, die Etablierung eines fast gleichberechtigten Partners, Thanner (Eberhard Feik), ohne ihn keine Doppelspitze Baerbock und Habeck, er war das sexy Walross des „Tatorts“, der die ganze Reihe in eine andere Umlaufbahn schoss und die gebrochene Maskulinität der Vätergeneration vergessen machte.

Dominik Graf

Er ist der bedeutendste deutsche Kriminalfilm-Regisseur. Er ist der Revisor der toten Seelen. Er kennt sie alle, die kleinen und großen Schurken, die Helden und Antihelden. Seine monströse Zärtlichkeit für Ticks und Momente, Dinge und Stadträume, Körper und Schauspieler tobt sich in all seinen Krimis aus. Er bringt sie alle zum Singen, die Mörder und die Polizisten, er kitzelt aus ihnen das Jämmerliche ebenso heraus wie das Herrliche und baut einen ganz Film nur um einen Moment herum, um ein Bild, einen Satz. Ein Berserker, dessen Filme mitunter irre wirken, weil die meisten deutschen Krimis Leichengift für die Lebenden sind.

ZDF

Die Nachfahren der alten Männer sind heute älter als ihre Väter. In seinen Krimis erklärt das ZDF den jungen Menschen den Krieg. Diese Krimis sind gerontokratische Mauern gegen Menschen unter vierzig. „Das Mädchen am Strand“ war kürzlich so ein Fall. Abiturienten als Mörder. Die Generation der silbergrauen Baby-Boomer steht selbstgerecht im Bild, Heino Ferch wie in Bronze gegossen. Krimi in Superzeitlupe.

Schrullen

Endlich dürfen auch Männer an der Seite starker Frauen schrullig sein, denken wir an Bjarne Mädel in „Mord mit Aussicht“ oder Hinnerk Schönemann in „Marie Brand“.

Der Flaneur

Der Kommissar ist der Flaneur des 21. Jahrhunderts. Nur er nimmt sich noch Zeit, seinen Blick vagabundieren zu lassen, Splitter einzusammeln, Straßen zu studieren, Schweißperlen auf der Stirn zu deuten und Blutspritzer hermeneutisch auszulegen.

Erik Ode war zwischen 1968 bis 1975 in 97 Folgen "Der Kommissar". Der Erfolg der Krimi-Reihe veranlasste die ARD, mit dem "Tatort" etwas dagegen zu setzen.
Erik Ode war zwischen 1968 bis 1975 in 97 Folgen "Der Kommissar". Der Erfolg der Krimi-Reihe veranlasste die ARD, mit dem "Tatort" etwas dagegen zu setzen.

© picture-alliance/ dpa

Stabilitätsgaranten

Der Mörder ist entwicklungsresistent, er ist der große Konservative, der Zeiteinfrierer. Nicht die Kommissare sind die Hüter unserer Ordnung, nicht sie sind die Stabilitätsgaranten, sondern die Verbrecher, die den Kommissaren ihren Job garantieren, unseren Ängsten Gestalt verleihen. Krimis künden nicht so sehr von der Angst vor dem Verbrechen, sondern eher vor der Angst vor Veränderung. Die Krimis umgeben das Land und die Sender wie ein Korsett, beide sind altersschwach. Die Krimis sind die Pflegekräfte im Dauerdienst.

„Polizeiruf 110“

Die Rostocker Ermittler Bukow (Charly Hübner) und König (Anneke Kim Sarnau) sind Leidensbeauftragte, säkulare Heilande, die im Alltag ihr Kreuz schleppen, gekreuzigt werden, auferstehen und weiterleben.

Einschalten

Seit Januar 1991 begleiten uns Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl), kein anderes Paar hat mehr Fälle auf dem Buckel. Wir sind grau und alt geworden mit ihnen, haben manche Leiche am Wegesrand zurückgelassen. Nicht all ihre Filme waren gut, aber viele ragten heraus. Auch „alte weiße Männer“ können auf der Höhe der Zeit sein, wenn sie ein Bündnis eingehen mit starken Frauen. Schalten Sie diesen Sonntag ein! Einer der besten „Tatorte“ der letzten Jahre! Ich verrate jetzt die Täterin: Pia Strietmann, die Regisseurin. Ihr Komplize: Holger Joos (Buch). Und das Handy! Und die Zuschauer! Wir alle haben Schuld auf uns geladen! Und Verantwortung! Klick!

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