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Marcel Proust, ein Bourgeois unter Bourgeoisen.

© Archives-Zephyr/Bridgeman Image

Leben und Meisterwerk von Marcel Proust: 3000 Seiten Erinnerung

„Die Welt des Marcel Proust“: Arte-Doku begibt sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit.

Knapp hundert Jahre nach dem Tod von Marcel Proust ist sein epochaler, zwischen 1913 und 1927 erschienener Roman selbst zu einer Flaschenpost aus der Vergangenheit geworden. Thierry Thomas, bekannt durch seine Dokumentation über Roland Barthes, taucht ein in den literarischen Kosmos des französischen Schriftstellers. Sein Film verwebt die Suche nach realen Vorbildern jener fiktiven Proust-Gestalten, die dank des Romans weltberühmt wurden, mit einer kurzweiligen Biographie des Autors.

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Der 1871 als kränklicher, verwöhnte Spross reicher Eltern geborene Proust zeigte schon früh Interesse an Literatur und Malerei. Von schnöder Erwerbstätigkeit enthoben, unternahm er Ausflüge in die großbürgerlichen Pariser Salons. Als Homosexueller mit jüdischen Wurzeln gehörte er aber nicht wirklich zur Welt der Aristokratie, deren Niedergang er mit subtiler Ironie dokumentiert. Das Ausgehen war daher nur „Nahrung für sein Werk“. Proust wollte nie etwas anderes als schreiben. Um sein Projekt zu verwirklichen, zog er sich in ein Zimmer zurück, das ihn mit schweren Vorhängen und einer schalldichten Korktapete von der banalen Außenwelt abschirmte.

[ "Die Welt des Marcel Proust“, Arte, Mittwoch, 21 Uhr 50]

Nachrichten aus dem Inneren dieser literarischen Isolierstation bilden das Herzstück dieses Films. Auf Ton- und Filmdokumenten zu Wort kommt Céleste Albaret, während der letzten acht Lebensjahre Prousts Haushälterin, Krankenpflegerin und Sekretärin. Ihre erfrischenden Anekdoten geben lebhafte Einblicke in die Schreibwerkstatt des obsessiven Autors.

Einmal beklagte sich Proust, er fände buchstäblich keinen Platz mehr für seine ausschweifenden Gedanken. Die Randspalten seiner Schreibhefte waren übervoll mit Anmerkungen und Kritzeleien. Kein Problem, sagte Céleste. Sie schlug vor, an das Ende jeder Seite gefaltete Blätter anzukleben, die der Setzer in der Druckerei wie eine Ziehharmonika ausklappen musste: Einem Autor von heute, der den endlosen Speicher einer Festplatte gewöhnt ist, mag dies banal erscheinen. Proust jedoch eröffnete dieser pragmatische Kniff erst den uferlosen Schreibraum.

Menschen aus dem Alltag werden Literatur

Die Dokumentation erinnert daran, dass es Menschen aus dem alltäglichen Umfeld von Marcel Proust waren, die als literarische Figuren in seinen Roman eingingen. Verwandelt und verklärt, erwachten sie im monumentalen Erzählwerk des Autors zu einem zweiten Leben. Thierry Thomas begibt sich auf die Suche nach den authentischen Zeitgenossen hinter diesem literarischen Geflecht.

Ein kürzlich entdeckter Filmschnipsel aus dem Jahr 1904 zeigt die Hochzeit von Bekannten, auf der Proust anwesend war. Der Aristokrat Armand de Guiche vermählte sich mit Elaine de Greffulhes, eine Nachbarin des Autors – die eines der Vorbilder für die berühmte Madame de Guermantes in der "Recherche" sein soll. Aber: Ist das unscharfe Bild jenes jungen Mannes mit Schnauzbart und Melone, der zwei Sekunden lang durchs Bild huscht, tatsächlich Marcel Proust selbst? Diese Frage, in der Proust-Forschung umstritten, bleibt offen. Die Dokumentation sucht unterdessen nach weiteren Vorbildern literarischer Charaktere im wuchernden Erzählkosmos des epochalen Werks.

Einzigartige Form des Schreibens

In der Ineinanderspiegelung von Leben und Werk erschöpft sich die Dokumentation nicht. Der Film spürt auch Prousts einzigartiger Form des Schreibens nach. Dazu lässt er nicht die üblichen Experten, Biographen und Sachverständigen zu Wort kommen, sondern vor allem Marcel Proust selbst. Dabei spannt die Dokumentation einen Bogen von den 1870er Jahren über die Dreyfus-Affäre bis hin zum Ersten Weltkrieg. Für den Literaturwissenschaftler bietet der Film wenig Neues. Der literarisch interessierte Betrachter nimmt jedoch Teil an einer vielschichtigen Suche nach der verlorenen Zeit. Manfred Riepe

Manfred Riepe

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