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Das Schlüsseljahr 1945, erzählt aus Sicht der Kinder. Im Bild ein verletzter junger Wehrmachtssoldat, der von einem US-Soldaten versorgt wird.

© HR/RBB/National Archives and Record

TV-Doku „Kinder des Krieges“: Blutjung für immer

Die erschütternde ARD-Dokumentation „Kinder des Krieges“ beklagt die Verbrechen an einer ganzen Generation.

Demmin in Mecklenburg, 1945. Die Rote Armee besetzt die kleine Stadt. Deutsche Frauen verstecken sich mit ihren Kindern auf Dachböden. Da geschieht Unfassbares. Die Mütter, von der NS-Propaganda zuvor hysterisch gemacht, holen Rasierklingen hervor und beginnen ihren Töchtern die Pulsadern aufzuschneiden. Sie sollen nicht Opfer der Sowjetsoldaten werden. Eine alte Dame hat sich gerade erhängt, einem Kleinkind haben die Versteckten die Kehle zugedrückt, sein Geschrei drohte die Verborgenen zu verraten.

Brigitte Roßow aus Demmin, die von dem schrecklichen Erlebnis vor der Kamera erzählt, wehrt sich damals gegen den Angriff der Mutter. Der Bruder der Bedrohten holt Hilfe – ausgerechnet von den Russen. Die wollen die Mutter erschießen. Die Kinder verzweifeln vollends. Sie lieben trotz allem ihre sich später schuldig fühlende Mutter. In Flüssen und Wäldern der Gegend verzeichnet das Kirchenbuch später den Fund zahlreicher Leichen.

[„Kinder des Krieges – Deutschland 1945“, ARD, Montag, 20 Uhr 15]

Die Schilderung der Brigitte Roßow ist einer von mehreren Beiträgen in der Dokumentation „Kinder des Krieges – Deutschland 1945“ von Jan N. Lorenzen, mit der das Erste am 4. Mai im Hauptabendprogramm 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs an das Schicksal all derer erinnert, die in jenen Jahren jung sein mussten, im verräterischen und zugleich treffenden Nebensinn des Wortes „blut-jung“.

Gezeichnet fürs Leben

Denn Verwundungen, seelische und körperliche, standen für diese Blut-Jungen am Anfang ihres Lebens. Alleingelassen oder unverstanden von Eltern, eingeschlossen in die NS-Propaganda oder betroffen von der Verfolgung des Regimes, werden sie gezeichnet fürs Leben. Der schonungslose Film ist in einen ARD-Programmschwerpunkt eingebettet mit lauter Sendungen im Fernsehen und Rundfunk mit dem Thema, wie die damals Jungen 1945 erlebten.

So spielen Statements von Zeitzeugen in diesen schonungslosen anderthalb Stunden Erinnerungsfernsehen die Hauptrolle. Der Filmautor tritt nicht auf, spiegelt nicht Ergriffenheit wider. Auch psychologische Fachleute für die Muster des Erinnerns haben Auftrittsverbot. Erklärungen sind knapp, Interpretationen verpönt. Vor allem die porträtierenden Fernsehbilder von den Zeitzeugen – welch unerschütterlicher Pionierglaube an die dokumentarische Kraft des persönlichen Erzählens – sollen den Zuschauer in den heute alten Gesichtern lesen lassen. Das hauptsächlich aus Wochenschauen stammende Originalmaterial dient als Sound. Soll heißen: Geschichte soll an die Menschen erinnern, die sie erlitten haben.

[Mehr Beiträge zum 75. Jahrestag der Befreiung finden sich unter www.tagesspiegel.de/themen/zweiter-weltkrieg/]

Wie an den 1945 vierzehnjährigen Sigurd Prinz aus Hildesheim. Er und seine Familie sind ausgebombt. Man haust in übrig gebliebenen Möbeln im Freien auf der Straße vor dem zerstörten Wohnhaus. Sigurd stöbert mit einem Grundschulkumpel durch die Trümmer. Beide Knaben hören vom Zentrum her ein seltsames Jammern. Am Rathaus der Stadt steht ein Galgen. Davor italienische Gefangene, die wegen Diebstahls angebrannter Konserven gehängt werden sollen. Einen der Todeskandidaten sieht Sigurd beten. Ein SS-Mann tritt gegen die gefalteten Hände des Italieners. Sigurd erkennt, wie barbarisch das Erwachsenwerden im Endkampf der Nazis ausfällt. Da kann die Mutter auch nicht trösten.

Gisela Jäckel aus Wetzlar, damals zehn, hätte sich eine Mutter gewünscht. Die ist seit 1943 verschwunden. Der Vater erklärt Gisela nichts. In der Schule der Zehnjährigen entdecken die Mitschüler, dass Giselas Mutter Jüdin ist. Das Mädchen wird gehänselt, aber von der energischen Großmutter so gut wie möglich geschützt. Später findet Gisela in den abgelegten Papieren des Vaters ein lügnerisches Schreiben aus Auschwitz: Die Mutter sei eines natürlichen Todes gestorben. Was das Mädchen aus Wetzlar wie der Junge aus Hildesheim erzählen, ist für die jungen Menschen eine Art Erweckung in einer Welt der Verzweiflung.

Isabelle Zange, die neunjährige Schreinerstochter aus dem oberpfälzischen Neunburg vorm Wald, begegnet dem Tod zu Hause. Ein Todesmarsch mit KZ-Häftlingen ist im nahe gelegenen Wald von der SS liquidiert worden.

Die Amerikaner verlangen vom Schreiner innerhalb kurzer Zeit Särge zum Bergen der Opfer. Wenn er das nicht rechtzeitig schaffe, werde er im Angesicht seiner Familie erschossen. Isabelle und ihre Schwester halten ihrem Tischlervater nachts das Licht. Er schafft, was ihm befohlen wurde.

Zwangsdefilee an an den offenen Särgen

Die Kinder müssen beim Zwangsdefilee an den Toten in den offenen Särgen vorbei mitmachen, Der TV-Augenzeugin kommt noch heute ein irrwitziges Lächeln über die Lippen, wenn sie erzählt, wie da der Kopf eines Opfers aus der Totenlade heraushing. 1945 ist Pädagogik nicht gefragt, Kinder helfen sich auf ihre Weise vor dem Schock mit einer rettenden Übersprungsreaktion.

Auch andere Kinder müssen für die Sünden der Erwachsenen haften wie Elfie Walther aus Delmenhorst. Englische Soldaten holen die 17-Jährige von ihrem Zuhause ab und transportieren sie als deutsche Fremdarbeiterin ins KZ Sandbostel bei Bremen, wo sie Häftlingen aus verdreckten und in die Haut eingewachsenen Kleidern helfen muss. Sie wird mit Kaffeebechern beworfen, weil die Naziopfer lieber Brot bekämen als Griesbrei. Elfie erzählt, sie habe sich trotzdem erst jetzt für ihre Nazi-Uniform geschämt, die sie gerade erst nach der Niederlage Deutschlands habe ablegen müssen.

So traurig sind die Zeitzeugenstatements, die von der gewaltsamen Austreibung der Jugend durch den schrecklichen Rabenvater Krieg handeln. Auch zwei mit gutem Ende im bösen Spiel sind dabei: Die Geschichte von Barney Sidler, damals zwölf, dem der Vater in der gemeinsamen KZ-Haft die amerikanische Adresse eines Onkels in Chicago einbläute, wo der Junge nach der Befreiung – der Vater wurde ermordet – eine neue Heimat fand.

Und die Geschichte von Gisela aus Wetzlar mit der in Auschwitz ermordeten Mutter: Gisela machte nach dem Krieg eine sie glücklich machende Karriere bei Eduscho und hatte immer das Gefühl, ihre Mutter würde ihr von oben immer stolz zugeschaut haben. Kindheitstraumerfüllung 1945.

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