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Buddenbrooks zu Dresden. Das Brautpaar Ina Rohde (Stephanie Stumph) und Thomas Wernstein (Christian Sengewald) feiert inmitten der Familien Hoffmann und Rohde. Foto: Nik Konietny/MDR

© MDR/teamWorx/Nik Konietzny

Verfilmung von Uwe Tellkamps „Der Turm“: Wir waren kein Volk

Uwe Tellkamps Roman „Der Turm“ über die Herrscher und Beherrschten in der DDR ist ein Monster mit tausend Seiten. Aber er kann zum zweiteiligen ARD-Film werden – weil die Schauspieler die Mauer zwischen Movie und Literatur überwinden.

Wende, Mauerfall, Einheitshype – sie könnten für das Fernsehen erfunden sein. Kein Medium hat so ausführlich und enthusiastisch vom größten deutschen Ereignis der Nachkriegszeit berichtet. Kameras hielten Honeckers Absturz in kindische Senilität fest („Den Sozialismus in seinem Lauf, halten weder Ochs und Esel auf“), rapportierten den Jubel der weinenden Grenzdurchquerer („Wahnsinn“), und die Sender profitierten von einem neuen fiktionalen Genre, dem Wendedrama.

Nun aber, 20 Jahre nach Jericho und seinen Posaunen, muss sich die fiktionale Einheitstagsbegleitung mit der ARD-Verfilmung von Uwe Tellkamps Roman „Der Turm“ an eine neue Gangart gewöhnen. Der Roman verlangt es. Nichts mehr mit den blauen Stunden vom Verschwinden der DDR und der abgewandelten Benn-Gedichtzeile, nur weil sie ging, weiß keiner, ob sie war. Es geht nicht mehr stramm nach vorn. Es geht zur Seite, es geht im Kreis. Der Erzählstrom staut sich am Widerstand der tausend Dinge, die auch die Welt bestimmen. Verebbt, wenn es um das Beobachten geht, das ganz genaue Beobachten von schwarzem Schimmel (im grandiosen Georg-Trakl-Verwesungston), um giftige Gerüche, oder ganz einfach-uneinfach um die Beschreibung von Schnee bei Tauwetter im Erzgebirge: „... der Schnee war krank, unter dem Harsch sinterte, sickerte es, bildeten sich Wasserdrusen, quecksilberten, leckten Stege dünn zwischen Firnhöhlen, suchten einander, flochten Rinnsale.“

Weltliteratur, sagen begeisterte Kritiker. Sie hören aus dem Text Musik. Der Wenderoman, heißt es. Nein, wird erwidert, es kann keinen einen Wenderoman geben. Aus vielen Erzählebenen wird auf den Leser gezielt. Naturalistisch, skurril, ein Streufeuer. Der Text spricht altfränkisch genauso versiert, wie er sich fernsehserienartig von Cliffhanger zu Cliffhanger bewegen kann. Zu Recht gilt Tellkamps „Turm“ als literarisches Monster. Man lernt bei Tellkamp, dass es nicht heißen durfte „Wir sind das Volk.“ Auch nicht „ein Volk“. Wir waren kein Volk, muss es heißen. Die oben, die unten, die Herrscher und wir, die Beherrschten, die sich über Dresden im Turm als machtlose Herrscher über die Kultur träumten.

Als sich Teamworx-Geschäftsführer Nico Hofmann die Rechte an Tellkamps Wahnsinnswerk sicherte, muss ihm klar gewesen sein, dass er nicht alle Etagen und Verliese des Turms würde „verfernsehen“ können. Immerhin blieb eine halbwegs filmisch verwendbare Story, allerdings ohne viel Dynamik, ohne Perspektive auf ein glückliches Ende mit lauter Siegern hin: Cholerischer Chirurg (Jan Josef Liefers) macht nicht die ihm zustehende Karriere. Er kann seinen Mund nicht halten. Fast hätte er seine Medizinstudium-Zulassung durch unbedachte Wutäußerungen verloren, aber eine erpresste Zusammenarbeit als Informant der Stasi samt Verrat an einem Kollegen retten ihn.

Er hat eine wahrheitsfanatische Frau, zwei Kinder, und – eine heimliche Geliebte, mit der er ein Kind gezeugt hat. Alles bleibt geheim. Bis die Stasi den Arzt für neue Spitzeldienste braucht und mit Aufdeckung der außerehelichen Affäre und dem potenziellen Entzug des Medizinstudienplatzes für den begabten Sohn Christian (Sebastian Urzendowsky) droht. Dieser Sohn ist ein elitär gesinnter Bursche, der sich seiner Aknehaut schämt, aber liest und lernt und seinen Einsamkeitsstolz auslebt, wie ihn die kollektivistische Ideologie des Systems nicht dulden kann.

Langsam schneckt die Handlung in eine Art kathartische Phase. Dem Chirurgen Richard schwimmen die Felle davon. Die Ehefrau Anne (Claudia Michelsen) erfährt von der Affäre, die Geliebte Josta (Nadja Uhl) unternimmt einen Selbstmordversuch und wirft den Liebhaber hinaus. Richards Krankenhauskarriere geht nicht weiter, die Psychiatrie fängt zwischenzeitlich den strauchelnden Doktor auf, die Ehefrau wendet sich – wohl auch erotisch – einem Bürgerrechtler zu. Als die Mauer aufgeht, steht ein Verzweifelter vor dem Engel der Geschichte.

Mustersohn Christian, der picklige DDR-Nerd, macht beim Militär eine Art Prinz-von-Homburg-Prozess durch. Am Tiefpunkt seiner vom Militär verhängten Bestrafungsqualen, am Karbidhochofen zu Bitterfeld, eine Art Golgatha der Todes-Esse namens DDR, klärt sich für den Geschundenen die Gefechtslage. Er leidet nur noch äußerlich, aber er weiß jetzt, wo der Feind steht, er weiß, wo er steht. Gegen Bürgerrechtsdemonstranten in Dresden als inzwischen rehabilitierter Soldat eingesetzt, kündigt er den Gehorsam und rettet seine demonstrierende Mutter vor der prügelnden Polizei. Die Erlösung der Wende trifft auf einen, der sich selbst erlöst hat.

Fehlt Meno (Götz Schubert), Christians Onkel, Richards Bruder, eine Hauptfigur im Roman und im Film. Er ist eine tragische, aber auch kathartisch gelähmte Figur. 1940 in Moskau geboren, als Kind traumatisiert durch Stalins mörderischen Terror gegen die im Hotel Lux untergebrachten kommunistischen Emigranten, sucht der Lektor, wegen Sympathien für den Prager Frühling von seinem Berufsplan, Zoologe zu werden, zwangsabgebracht, hinfort stets das, was es in der DDR nicht gibt: Harmonie. Den (unmöglichen) Frieden zwischen Zensoren und Zensierten, Verständnis zwischen saturierten kommunistischen Granden und aufmüpfiger Jugend.

Reicht dieses Geflecht zaudernder und zerquälter Protagonisten für spannendes Fernsehen? Und noch wichtiger: Hat das Medium den Sinn für die Breite, Tiefe, Skurrilität des Romans? Für die Fülle des Personals? Für ein Milieu, in dem ein Kater „Chakamankabudibaba“ (nach dem Märchenonkel Hauff, weniger bildungsbeflissen geht es nicht bei den Türmern) heißt, für eine Gespensterwelt namens „Ostrom“, in der oberhalb Dresdens die mächtigen bösen Herrscherfunktionäre schwer bewacht verdämmern? Für Roman-Bilder, auf die Richard Wagners Parzival-Satz „Zum Raum ward hier die Zeit“ zutrifft?

Eine totale Durchdringung von Fernsehen und Literatur muss heute eigentlich tragisch enden. Das moderne Movie-Geschäft ist hochgradig formatiert. Die Ehrfurcht vor großer eigensinniger Literatur ist nicht mehr gegeben. Filme müssen massenkompatibel, frauenaffin und heutigen Sehmustern entsprechend eingerichtet sein. Bloß kein Arthouse. Bloß nicht historische Kenntnisse voraussetzen.

Wo jetzt für den Schirm gehobelt wird, fallen die Spleene, fallen exotische Orte, weicht alle Detailversessenheit, wird alles Gezackte, Verquere dramaturgisch auf Linie gebracht. Ein Roman trifft auf ein gehetztes Fernsehen, das narzisstisch an der Vervollkommnung seiner selbst arbeitet. Also, pardon: Turm und Drang

Es bleibt nur: Rotstift raus. Weg mit der Natur, weg mit allen Rekonstruktionsversuchen der seltsamen Türmerwelt, weg mit den Teufelsburgen, – eine gewichtige Ausnahme gibt es – und mit den Teufeln „Ostroms“. Raus mit allen Figuren, an denen die Erzähllast ihrer Vergangenheit klebt. Das neue Publikum kennt sich mit Geschichte nicht mehr so aus.

Drehbuchautor Thomas Kirchner lässt aus dem Roman nur die Personen auf die Filmbesetzungsliste, die den Mustern der modernen Movie-Rezeption vertraut sind und nach dem riechen, woran der Fernsehzuschauer schon mal gerochen hat. Das ist und bleibt, wie es immer im Fernsehen war: die Familie, Vater und Sohn und – seit Inge Meysel – die Mutter. Ohne Anne, die Edelglucke, geht im Fernsehfilm nichts. Sie ist im TV der Mittelpunkt, gut, sorgend, wie alle männererleidenden Frauen im Recht, obwohl sie im Roman viel seltener vorkommt und dort als ein ziemlich starrsinniges, wahrheitsfanatisches Geschöpf geschildert wird. Durch die Literatur auf das Fernsehen geblickt: Das Medium ist mutterfixiert.

Es ist auch süchtig nach Erotik. Richards Affäre mit der Chefsekretärin breitet der Film reichlich aus, als wäre der Arzt hauptsächlich erotisch erklärbar und litte nicht heillos an seiner gesellschaftlichen Einsamkeit. Eine halbe Vergewaltigung, die der durch den Militärdienst verrohende Christian an einer ihn in der Garnisonsstadt besuchenden Freundin (Reina Kossmann) begeht, bleibt dem Zuschauer in ihren körperlichen Details so wenig erspart wie der Prostitutionsdienst der Mutter an einem Prominentenanwalt, der nur so dazu zu bewegen ist, die Vertretung des verfolgten Sohnes zu übernehmen. Auch wenn der zerquälte Bücherwurm Meno bei der Schriftstellerin Shevola (Valery Tscheplanowa) die Gedankenfreiheit sucht, meint man im Film, die Triebe knistern zu hören.

Selten nur öffnet sich das filmische Erzählgehäuse für das Geheimnis der Wende. Der Film hütet sich, den bewusst privatistischen Roman zu transzendieren. Was und wer die Wende letztendlich bewirkt hat – im dialogischen Dauerparlando, das Christian Schwochow mit großartigen Hörspielohren inszeniert hat, ist ein Suchen nach dieser Frage nicht zu bemerken. Es scheint, als sei die Wende von außen über die Türmer gekommen. So wollen es der Roman und seine Verfilmung. Vielleicht, weil das Wichtigste in der Geschichte unbeantwortbar ist.

Ist die filmische Anstrengung von Teamworx umsonst? Bleibt der Roman ein großer, bewusst verwirrender und an formalen Mitteln reicher Roman, der Film eine unzulängliche Zähmung des literarischen Kosmos?

Nein. Denn es gibt sie, die Überwinder der Mauer zwischen dem Movie und der wilden freien Welt der Literatur. Die Schauspieler. Sie bringen den Roman in vielen Szenen auf den Punkt. Man muss nur in das Gesicht von Peter Sodann in der Rolle des obersten sozialistischen Literatur-Kerkermeisters blicken, dann sieht man – ohne es real zu sehen – das ganze Ostrom, dessen selbstgefälliges Leiden, sein beleidigtes Pathos und empfindet sogar einen unbotmäßigen Respekt für den schlimmen Alten.

Götz Schubert, den Darsteller des Lektor-Hamlets Meno, kennt man als dünnhäutigen Schichtführer der Serie „Kriminaldauerdienst“, als einen, der seine Abgründe und Leidenschaften hinter professioneller Umgänglichkeit verbergen kann. Sein „Turm“-Spiel, mit feinem sächsischen Akzent, macht klar, dass die Bücherherrlichkeit vergangener Zeiten, die „süße Krankheit gestern“ untergehen wird, wenn die DDR untergeht. Mit der Verfolgung sterben die Verfolgten.

Jan Josef Liefers in der Rolle des Richard kann sich im Film zunächst als Wüterich entfalten, um dann als Verlierer in selbstverschuldeten Krisen dazustehen. Dass ihn die Verhältnisse, die alle Leistung durch ideologische Verblendung entwerten, zum Opfer machen, kommt im Film nicht heraus – wer fremdgeht, hat im modernen Movie-Verständnis keine Empathie verdient. Aber dann weitet sich doch seine Gesichts- und Gestenlandschaft und zeigt den Punkt, an dem das Wendethema in das ewige Thema menschlicher Vergänglichkeit übergeht. Wo man für die neue Freiheit einfach zu alt und krank geworden ist. Liefers sieht am Ende wie ein alter Clown nach dem letzten Auftritt aus. Es geht mit der DDR zu Ende, aber er hat nichts mehr zu lachen. Wie vielen ist es so ergangen.

Was der Christian-Darsteller Sebastian Urzendowsky hinlegt, kommt dem Roman ganz nahe. Ein gelockter Engel (im Film ganz ohne Pickel), auf dem Dresdner Turm-Zauberberg zum Schnösel verzogen, wird in der Militärhölle hart und schreitet mit der Verkündigung der Maueröffnung über den Doppelpunkt hinaus, mit dem Tellkamps großer Roman an dieser Stelle endet, entschlossen ins weiße, leere Papier namens deutsche Einheit hinein, wo unsere Fantasie ihn erwartet.

Nichts ist nach diesem Film verloren und die vielen, die an der Lektüre gescheitert sind, können, sollen, müssen weiterlesen. Und, na klar, den Film sehen.

„Der Turm“, ARD, Mittwoch und Donnerstag um 20 Uhr 15

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