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Organist Kilian Nauhaus (li.) und Pfarrer Matthias Loerbroks (re.).

© Thilo Rückeis

25 Jahre Deutsche Einheit: Aus allen Wolken

Der Kantor aus Halle und der Pfarrer aus Hamburg geben der Evangelischen Kirchengemeinde in der Friedrichstadt ihr Gepräge.

Es gibt unzählige Organist-contra-Pfarrer-Witze, aber gefragt nach seinem Lieblingswitz, fällt dem freundlichen Kilian Nauhaus nur ein Tatort ein, in dem der Pastor seinen Mitarbeiter von der Empore schubst. Zur Evangelischen Kirchengemeinde in der Friedrichstadt, wo der geborene Hallenser, Jahrgang 1960, als Kantor des Französischen Doms mit Matthias Loerbroks, seinem Pfarrer aus dem Westen, kooperiert, passt das Krimi-Klischee eher nicht. Seit 1987 wirkt Nauhaus in der Friedrichswerder-Gemeinde, wie sie damals hieß.

Er stammt aus einer konservativen Bildungsbürgerfamilie mit vielen Westkontakten, durfte kein Abitur machen. Heute gehört er zu den drei Prozent DDR-Bürgern, die ihren Arbeitsplatz von „vorher“ behalten haben. Den Herbst ’89, das „Bunt-Werden“ der grauen Republik, erinnert er als „utopische, glücklichste politische Zeit meines Lebens“, die Wende als „ein Aufatmen“. Mit der Ankunft eines Wessis im Pfarramt hatte er kein Problem – „bei uns sollte doch alles Mögliche, schön und bereichernd, zusammentreffen können“.

Respekt vor der Kompetenz des anderen

Ganz so locker hat der Hamburger Matthias Loerbroks, Jahrgang 1956, seinen Start bei den Friedrichstadt-Protestanten nicht erlebt. Begeisterung kam keine auf, sagt er. Ostler hätten einem damals vermittelt, sie seien, wegen staatlicher Repression, die wahren Christen gewesen. Eines Tages nach seinem Amtsantritt 1998 begab sich der Eindringling zum Orgelkonzert am Mittag in den Dom und begegnete („Ich bin der Neue“) Kilian Nauhaus zum ersten Mal. Geduzt haben sie sich bald, der Draht war da, auch wenn Loerbroks spottet, für seinen klassisch orientierten Organisten ende die deutsche Literatur mit Thomas Mann.

Bei Thomas Bernhard, Kreisler, Tucholsky fanden sie sich, und als im Schleiermacherhaus, Baujahr 1738, dem schönen Gemeindehaus an der Taubenstraße, ein Expressionisten-Salon zu Gottfried Benns Geburtstag stattfand, saß Nauhaus am Flügel. Respekt vor der Kompetenz des anderen und die Zurückhaltung davor, ihm besserwissend reinzupfuschen, hat sie verbunden, vor allem das Vergnügen, gemeinsam Gottesdienste vorzubereiten, Texte und Lieder, „die Dramaturgie von Anfang bis Ende“. Ist ihre Herkunft von verschiedenen Planeten überhaupt noch ein Thema?

Er habe viel mit Biografien zu tun, bei Beerdigungen und Geburtstagsbesuchen, sagt Loerbroks: Da stößt man drauf. Andererseits sei hier nun mal die Fluktuation durch Zuzügler groß. Nauhaus sagt: Wenn sich jemand nach einer Chorprobe oder bei einem Ausflug als Wessi entpuppt oder umgekehrt, falle er selbst oft „aus allen Wolken“.

Die Ost-West-Verschmelzung

Dabei hat das Vereinigungs-Thema, über die Mischung der Provenienzen hinaus, ab 2001 noch auf anderer Ebene die Friedrichstadt-Gemeinde geprägt. Damals fusionierte Friedrichswerder, dieses prominente, touristische City-Quartier der Ministerien rund ums glitzernde Lafayette an der Friedrichstraße, mit zwei kleinen, unbetuchten Westgemeinden am Rand von Kreuzberg: Dreifaltigkeit / Lukas und Jerusalem / Neue Kirche. Die Kirchenleitung hatte Loerbroks & Co. eigentlich St. Marien als Ideal-Braut empfohlen, der Pfarrer empfand das „mehr und mehr als falsch“.

Dann verstand sich der sondierende Kirchenrat auf Anhieb mit den Kreuzbergern – und wählte die Ost-West-Verschmelzung, genannt „Evangelische Kirchengemeinde in der Friedrichstadt“. Ein zweiter Pastor mit Westwurzeln kam hinzu, niemand reklamierte den Proporz!

In der Mitte der Gesellschaft

Bei dieser Fusion, sagen Pfarrer und Musiker, stand das übliche West-Ost-Gefälle kopf: Die Ost-Gemeinde erschien aufgrund alten Immobilien-Besitzes (im Westen) vermögender und stärker wegen ihrer Standort-Prominenz. Die West-Gemeinden fürchteten sich vor Fremdbestimmung und Identitätsverlust.

Das ist nun 14 Jahre her. Heute, sagt Nauhaus, sei seine Kirche eine völlig andere Organisation als die, zu der er als „radikaler Außenseiter“ in der DDR gehörte. Jetzt stehe sie in der Mitte der Gesellschaft, obwohl man – er schaut seinen Pfarrer an – versuche, sich nicht komplett anzugleichen und nur noch über Fundraising und Management zu reden. Hier gibt Loerbroks Contra. Die Kapitalismuskritik teile er, nicht aber die retrospektive Illusion: dass die leidigen Finanzen damals, als Ost-Kirchen vom Westen subventioniert wurden, weniger wichtig gewesen seien als heute.

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