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Pilgern zu den Passionsspielen. Nach Oberammergau kommen zahlreiche Touristen aus aller Welt.

© People Picture/Willi Schneider

Das größte Laientheater der Welt: Massenspektakel aus Passion

Von Frühjahr bis Herbst bestimmt das monumentale Jesus-Theaterstück das Leben in Oberammergau. Das oberbayerische Dorf wird von Besuchern geflutet. Ein Besuch.

Vormittags um 10.30 Uhr hält der Reisebus in Oberammergau vor dem Landhotel Böld an und lässt eine Masse schnatternder US-Amerikaner aussteigen. Das Schloss Linderhof können sie von ihrer To-Do-Liste abhaken, sie haben es gerade besichtigt – es ist einer der märchenhaft-bombastischen Prachtbauten von Ludwig II., dem mythenumwobenen bayerischen Märchenkönig.

„Jetzt steht dann bald das Mittagessen an“, sagt Claudia Hans, Inhaberin des Hotels. Ihre Mannschaft ist gerüstet, das Frühstück längst abgeräumt, die Tische sind wieder eingedeckt. „Zwischen halb zwölf und halb eins essen die Gäste“, erzählt sie, „dann machen sie sich auf den Weg zum Passionstheater.“

Es sind wieder Passionsspiele in dem bayerischen Alpendorf, das 20 Kilometer nördlich von Garmisch-Partenkirchen liegt. Die ersten Passionsspiele seit zwölf und nicht wie üblich zehn Jahren – 2020 mussten die Aufführungen wegen Corona abgesagt werden. Die Veranstalter um den bekannten Theatermann Christian Stückl verschoben gleich auf 2022. Covid-19 gibt es zwar weiterhin, doch sind in Deutschland alle Großveranstaltungen wieder uneingeschränkt erlaubt, auch die Passion.

Zu den rund 100 Vorstellungen des Theaterstückes über Leben, Sterben und Auferstehung Jesu Christi sollen bis zum Herbst 450 000 Besucher in das hölzerne Festspielhaus kommen. Oberammergau selbst hat, um das mal ins Verhältnis zu setzen, 5400 Einwohner. Ein Drittel von ihnen steht bei diesem größten Laientheater der Welt selbst auf der Bühne – 1400 Erwachsene und 450 Kinder. Die meisten haben kleine, stumme Rollen, sie sind im „Volk“. Es ist ein riesiges Spektakel, auf das man zumindest außerhalb von Bayern staunend und oft ein wenig befremdet blickt.

Viele Besucher kommen mit Stöcken, Rollatoren oder werden in Rollstühlen geschoben

Sophie Schuster kommt ins Theater-Café. Die schlanke 26-Jährige hat lange dunkle Haare, trägt Jeans und Turnschuhe. „Wir sind jetzt echt im Flow“, sagt sie. Die Oberammergauerin hat eine große Rolle, sie spielt Maria Magdalena – die Begleiterin Jesu, die laut Bibel bei Kreuzigung und Auferstehung dabei war. Nachher wird sie durch den Bühneneingang reingehen, an diesem Tag steht sie auf der Bühne. Alle tragenden Rollen sind mit zwei Schauspielerinnen und Schauspielern besetzt, für einen wäre das Pensum nicht zu schaffen.

„Jetzt sind wieder Leute da“, sagt sie, „und es ist echt schön, dass wir spielen dürfen.“ Im richtigen Leben studiert Sophie Schuster Marketing. „Aber dieses halbe Jahr nehme ich mit“, betont sie. Das Studium fährt sie auf ein Minimum herunter. Die vielen Menschen, der Trubel im Dorf – sie und auch alle anderen in Oberammergau scheint das nicht zu stören. Vielmehr genießen sie es. „Ich mag die Menschen und wenn es voll ist“, erzählt sie. „Und das Miteinander im Team ist toll und bereichernd.“

Mit der katholischen Kirche indes hat sie kaum etwas am Hut, was auch für nahezu alle Passions-Darsteller gilt. Im April 2020 hatte sie bei einem ersten gemeinsamen Rundgang das vollkommen leere Theater gezeigt, sie stand ganz allein auf der Bühne. Wenn sie nun als Maria Magdalena ins Rampenlicht tritt, blicken 4500 Augenpaare auf sie. Nervös? „Ach, es geht“, sagt sie ziemlich abgebrüht.

Die Oberammergauerin Sophie Schuster spielt Maria Magdalena. Mit der katholischen Kirche hat sie kaum etwas am Hut.
Die Oberammergauerin Sophie Schuster spielt Maria Magdalena. Mit der katholischen Kirche hat sie kaum etwas am Hut.

© Patrick Guyton

Gegen 12.30 Uhr machen sich tatsächlich, wie es die Hotel-Frau Claudia Hans beschrieben hat, die tausenden Besucher auf den Weg zum Passionstheater. Beginn des ersten Teils ist um 14.30 Uhr. Viele sind in Gruppen da, werden geführt von Männern oder Frauen, die Tafeln weit in die Höhe halten, damit niemand verloren geht. Das Dorf scheint zu platzen. Man hört US-Amerikaner und Briten reden, sieht Asiaten und Afrikaner, trifft auf Hessen und Hamburger.

Der Altersdurchschnitt ist hoch, viele Besucher kommen mit Stöcken, Rollatoren oder werden in Rollstühlen geschoben. Viele tragen Decken und Sitzkissen, denn die Holzstühle im Theater gelten als hart, und für das Oberammergauer Spiel braucht man Sitzfleisch. Die Passion ist ein Zeitfresser: Der erste Teil dauert von 14.30 bis 17 Uhr, dann sind drei Stunden Pause für das Abendessen. Um 20 Uhr geht es weiter bis zur Auferstehung gegen 22.30 Uhr.

Ohne das Gelübde gäbe es das alles nicht im Dorf

In der langen Schlange am Einlass steht auch Richard Adamson, er ist ein großer, stämmiger Amerikaner aus Kalifornien, 65 Jahre alt. „Ich habe die Passionszeit gewählt, um Freunde in Deutschland zu besuchen“, erzählt er. Zwei Tage ist er hier. „Dann geht es weiter zum Campen in den Schwarzwald“. Die Buchhändlerin Monika Schwarz schaut vor ihrem Laden unweit des Theaters den Menschenmassen zu. „Für uns in Oberammergau ist das eine Ehre, wenn man sieht, welche Reisen die Leute auf sich nehmen“, sagt sie. Eben erst hat sie im Laden Oberammergau-T-Shirts an eine Gruppe Australier verkauft.

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Ohne das Gelübde gäbe es das alles nicht im Dorf. Im Jahr 1633 wütete die Pest, 80 Bewohner fielen ihr zum Opfer. Als die Seuche verschwand, lösten die Menschen ihr Versprechen ein: Alle zehn Jahre spielen sie zum Dank die Passion. Solche gibt es auch anderswo, Oberammergau ist aber weltweit die mit Abstand größte. Jeder Bewohner hat das Recht mitzuspielen.

Intendant Stückl, ein langhaariger, rustikaler Bayer, hat diesmal einen wütenden, zweifelnden, auch verzweifelten Jesus auf die Bühne gestellt, der sich gegen Armut und Not auf der Welt stemmt. Und wie gehen sie mit dem Ukraine-Krieg um?

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Frederik Mayet, einer der Jesus-Darsteller, weiß da keine einfache Antwort. „Wir haben ganz viele darüber gesprochen“, sagt er. „Der Jesus müsste noch viel lauter sein und noch viel mehr gehört werden.“ Cengiz Görür, 22, spielt den Judas. Wie alle Darsteller trägt er einen Bart und hat längere Haare, denn schneiden und rasieren ist ihnen schon seit dem letzten Jahr verboten. Görür ist der erste Schauspieler einer großen Rolle mit türkischen Wurzeln. „Anfangs war es für manche Oberammergauer schwierig, dass der Judas ein Muslim ist“, sagt er. „Aber jetzt ist das gar keine Frage mehr.“ Ebenso selbstbewusst wie selbstverständlich sagt er: „Ich bin auch Oberammergauer.“

Das Spiel dürfte ordentlich Gewinn abwerfen

Wenn gespielt wird, ist es leer im Dorf, und in der Pause ist es voll. Die Menschen ziehen durch die schmucken Sträßchen mit den alpenländischen Häusern, schauen sich in den Geschäften Pullover aus Schafswolle, Sitzdecken und jede Menge Schnitzereien an – Jesus, Engelchen oder ein Schäferhund. Es gibt auch viele FC-Bayern-Fanartikel und einen geöffneten Christkindlmarkt.

Oberammergau ist durchaus eine eng getaktete Massenbespielung. Gebucht werden können Arrangements mit einer oder zwei Übernachtungen. Neben dem Theaterbesuch stehen dann für die Touristen das Ludwigs-Schloss Linderhof, Kloster Ettal und womöglich ein Kurztrip nach München auf dem Programm. Wer länger bleiben will, sollte sich ein passionsloses Jahr auswählen. Das Spiel wird von einem gemeindeeigenen Betrieb organisiert und dürfte ordentlich Gewinn abwerfen.

Viele Zuschauer sind ergriffen von der Monumentalaufführung. Auch die Schauspieler haben ihre Passagen, die ihnen am meisten abfordern. Cengiz Görür fällt sofort die „Verzweiflungsszene“ des Judas ein – „wo ich mich danach gleich erhängen muss“. Sein letzter Satz: „Komm du Schlange, umstricke mich, erwürge den Verräter.“

Sophie Schuster darf als Maria Magdalena länger auf der Bühne bleiben. Als „krassen Wechsel“ empfindet sie die Kreuzigung und gleich danach die Auferstehung. Erst sagt sie: „Meine Seele, sie lebt für dich.“ Und dann: „Halleluja, er ist erstanden.“ Nach dem Ende braucht sie erst einmal ein bis zwei Stunden, um zur Ruhe zu finden. „Wenn man frisch von der Auferstehung kommt, fällt man nicht gleich ins Bett.“

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