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Panorama: Das nächste Beben kommt bestimmt

Istanbul muss jederzeit mit Erdstößen rechnen – der Bürgermeister gibt zu, dass die Stadt nicht vorbereitet ist

Sie sind neu in Istanbul und werden in diesem Sommer vielen Besuchern der türkischen Metropole am Bosporus auffallen: leuchtend orangefarbene Container, die an Straßen, Plätzen und in Parks der Stadt stehen. Die Container enthalten Generatoren, Werkzeuge, Erste-Hilfe-Taschen und Wasservorräte für den Ernstfall – für das nächste große Beben, das die Zwölf-Millionen-Stadt irgendwann in den nächsten Jahren erleben wird.

Viel helfen werden die Container wohl nicht: Experten rechnen mit Hunderttausenden Toten, Zehntausenden eingestürzten Gebäuden und zerstörerischen Großbränden. Selbst Istanbuls Oberbürgermeister Ali Müfit Gürtuna räumt ein, dass seine Stadt nicht auf die absehbare Katastrophe vorbereitet ist.

Dass Istanbul irgendwann bis zum Jahr 2030 von einem großen Erdbeben erschüttert werden wird, darin sind sich alle Fachleute einig. Bis zum Beben können noch Jahre vergehen, doch es kann auch schon morgen passieren. Die äußerst aktive nordanatolische Verwerfungslinie, die 1999 das vernichtende Beben von Izmit auslöste und 20 000 Menschen das Leben kostete, verläuft nur sechs Kilometer von Istanbul entfernt durchs Marmara-Meer. „Dieses Erdbeben warnt uns gewissermaßen, dass es kommen wird“, sagt der Erdbebenforscher Celal Sengör über das nahende Unglück.

Auch Bürgermeister Gürtuna weiß, dass die Uhr tickt. Ein Beben der Stärke 7,5 auf der Richterskala würde in Istanbul 25 000 Gebäude dem Erdbeben gleichmachen, sagte Gürtuna jetzt in einem Zeitungsinterview.

Schlampig gebaut

Zwei Drittel der rund eine Million Gebäude in Istanbul wurden illegal errichtet. Die einzige Möglichkeit, die Katastrophe zu verhindern, wäre der sofortige Abriss und Neubau dieser Häuser. Doch das ist eine vollkommen utopische Vorstellung.

Schlampig gebaute Häuser, chaotische Verkehrsverhältnisse und leere Staatskassen machen eine wirkungsvolle Vorbereitung sehr schwierig. Besonders in jenen Gebieten der Stadt, in denen die Häuser auf aufgefüllten Meeresbuchten am Marmara-Meer stehen, werden viele Menschen sterben, wenn nicht rechtzeitig gehandelt wird. Zwei Drittel der mehr als 2000 Schulgebäude in der Stadt sind erdbeben-unsicher und müssten sofort verstärkt werden. Eine andere Gefahrenquelle sind Erdgasleitungen, die bei einem schweren Beben reißen und explodieren könnten.

Die Warnung von Bingöl

Das Beben im südosttürkischen Bingöl, bei dem vor zwei Wochen fast 200 Menschen starben und über 500 verletzt wurden, hat den Istanbulern erneut ins Gedächtnis gerufen, wie gefährdet auch sie sind. Das Beben von Bingöl hatte eine Stärke von 6,4 auf der Richterskala.

Doch es bestehen kaum Aussichten auf eine baldige Erdbebensicherheit der Stadt, in der etwa jeder fünfte Türke wohnt. Istanbul und auch der türkische Staat haben kein Geld für aufwändige Sicherheitsmaßnahmen. Acht bis zehn Milliarden Dollar wären für eine umfassende Vorbereitung der Stadt nötig – eine Summe, die das Volumen des jährlichen Istanbuler Stadthaushalts um vier bis fünfmal übersteigt.

Deshalb kann es nach den Worten des Istanbuler Experten Mustafa Erdik bis auf weiteres nur darum gehen, die Zahl der potenziellen Todesopfer bei einem schweren Beben auf etwa 20 000 zu drücken. Hoffentlich lasse das Erdbeben noch etwas auf sich warten, sagt er. „Mit Allahs Hilfe können wir unsere Lage etwas verbessern.“

Die für die Stadt selbst machbaren Sicherheitsvorkehrungen wie die Aufstellung der orangenen Container bieten jedenfalls keinen wirksamen Schutz. Viele Container wurden schon von Dieben geplündert. Außerdem gibt es Streit zwischen der Stadtverwaltung und der Werbeagentur, die das Projekt bezahlt hat und dafür das Recht erhielt, an den Standorten der Container auch Werbetafeln aufzustellen: Die Werbeleute plazierten etliche Tafeln und Container dort, wo sich die Reklame lohnt – und nicht an Stellen, an denen die Hilfsgüter nach Ansicht der städtischen Erdbeben-Experten besonders gebraucht werden.

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